Glosse

Der Rest der Welt

»Rennen Sie!« oder Als ich einmal Kurzstrecke fliegen wollte

von Margalit Edelstein  18.03.2023 22:48 Uhr

»Rennen Sie!« Foto: Getty Images

»Rennen Sie!« oder Als ich einmal Kurzstrecke fliegen wollte

von Margalit Edelstein  18.03.2023 22:48 Uhr

Neulich musste ich ganz dringend nach Stuttgart reisen. Riesenbaustellen an allen Gleisknotenpunkten, an Zugfahren war also nicht zu denken. Also gut, dachte ich, benehme ich mich eben ein einziges Mal wie ein richtiges Umweltschwein und buche eine Kurzstrecke. Kam mir sogar irgendwie mondän vor, wie ich da vor meinem Laptop saß und einen Flieger buchte. Bis ich merkte, dass alle Direktverbindungen Brüssel–Stuttgart gestrichen waren und ich in Frankfurt umsteigen musste.

Aber na gut, ich musste, wie gesagt, dringend reisen. Also: gesagt, getan, gebucht. Am Tag des Abflugs begab ich mich bestens vorbereitet zum Flughafen: Ticket, Pass, Proviant, Reiselektüre, luftige Reisekleidung: Check!

Verspätung Ich ging zum Check-in, segelte durch die Security. Jetzt konnte ja nichts mehr schiefgehen. Aber es kam, wie es kommen musste: Der Flug Brüssel–Frankfurt hatte Verspätung, und so saß ich schon bald als nägelkauendes Nervenwrack auf meinem niedrigpreisigen Gangplatz und versuchte, das Bordpersonal auf mich aufmerksam zu machen und nach dem Anschluss in Frankfurt zu fragen.

Kaugummi kauend tippte eine der Stewardessen auf ihrem Bord-Laptop herum und nuschelte, der Anschluss sei nicht garantiert, das Gate befinde sich in einem anderen Terminal. »Und was soll ich jetzt machen?«, flüsterte ich voller Panik. Die Stewardess ließ eine Kaugummiblase platzen: »Rennen Sie!«

Und so schnappte ich mir, kaum in Frankfurt gelandet, mein kleinteiliges Gepäck und hechtete zum Ausgang, in den Terminal, zur nächsten Anzeigetafel. Das Anschlussgate war meilenweit weg. Ich hatte noch eine Viertelstunde bis zum Abflug. Ich rannte, was das Zeug hielt, keuchend, mit stechenden Lungenflügeln, die albtraumartig langen Gänge des Frankfurter Flughafens entlang, bog links ab, dann wieder rechts, erreichte irgendwann den rettenden Aufzug.

Gamsbarthut Wie besessen hämmerte ich auf den Aufzugknopf, endlich ging die Tür auf, ich fiel geradezu hinein vor Erleichterung, die Tür begann, sich zu schließen, da reckte sich von links außen eine alte, knochige, zittrige Hand herein und klemmte einen Spazierstock zwischen die Aufzugtüren. Eine etwa 100-jährige Person im Lodenmantel und Gamsbarthut schob sich herein und warf mir einen giftigen Blick zu.

Die Aufzugtüren schlossen sich, Mr. Gamsbart und ich fuhren in den zweiten Stock. Sofort schoss ich wie eine durchgeschwitzte Rakete aus dem Aufzug, eilte mehrere Gänge entlang, erreichte auf den letzten Drücker das Gate und sank schwer atmend auf einen der Sitze. Da kam eine Durchsage, der Abflug verzögere sich noch etwas. Ich sank auf meinem Sitz in mich zusammen.

Eine weitere Durchsage mit der Bitte um Geduld, man warte noch auf einen Fluggast. Nach einer endlosen Wartezeit schob sich – gaaanz langsam – mit schlurfenden Minischritten eine kleine, grün gekleidete Figur im Gamsbarthut und Spazierstock um die Ecke und erreichte im Schneckentempo das Gate. Fassungslos starrte ich die Person an. Ich hatte mir ganz umsonst die Seele aus dem Leib gerannt! Und was lernen wir daraus? Keine Ahnung – beim nächsten Mal fahre ich mit dem Auto.

Literatur

Leichtfüßiges von der Insel

Francesca Segals Tierärztin auf »Tuga«

von Frank Keil  21.10.2024

Berlin

Jüdisches Museum zeigt Oppenheimers »Weintraubs Syncopators«

Es ist ein Gemälde der Musiker der in der Weimarer Republik berühmten Jazzband gleichen Namens

 21.10.2024

Europa-Tournee

Lenny Kravitz gibt fünf Konzerte in Deutschland

Der Vorverkauf beginnt am Mittwoch, den 22. Oktober

 21.10.2024

Geistesgeschichte

Entwurzelte Denker

Steven Aschheim zeigt, wie deutsch-jüdische Intellektuelle den Herausforderungen des 20. Jahrhunderts begegneten

von Jakob Hessing  21.10.2024

Heideroman

Wie ein Märchen von Wölfen, Hexe und Großmutter

Markus Thielemann erzählt von den Sorgen und Ängsten eines jungen Schäfers in der norddeutschen Provinz

von Tobias Kühn  21.10.2024

Nachruf

Mentor und Mentsch

Hannah M. Lessing erinnert sich an den verstorbenen israelischen Holocaust-Forscher Yehuda Bauer

von Hannah M. Lessing  21.10.2024

Sam Sax

Apokalyptisch in New York

Der queere Coming-of-Age-Roman »Yr Dead« beschreibt eine Selbstverbrennung

von Katrin Diehl  20.10.2024

Tatort

Alte Kriegsverbrechen und neue Zivilcourage

Im neuen Murot-»Tatort« findet ein Kriminalfall im Zweiten Weltkrieg in die Gegenwart. Und Hauptdarsteller Ulrich Tukur treibt doppeltes Spiel

von Andrea Löbbecke  20.10.2024

Buchmesse

Friedenspreis des deutschen Buchhandels für Anne Applebaum

Als die Historikerin Anne Applebaum in Frankfurt mit dem Buchhandels-Friedenspreis geehrt wurde, richtete sie einen dramatischen Appell an die Welt

von Christiane Laudage, Christoph Arens, Volker Hasenauer  20.10.2024