Kolumne

Der Rest der Welt

Kinder nerven. Ihre Fantasie nervt. Sie sagen: »Ich bin jetzt ein Drache«, und dann sind sie wirklich ein Drache. Oder Fee oder Topmodel. Was eben gerade anliegt. Uns Erwachsenen bleibt nichts anderes übrig, als dieses Spielchen mitzumachen, sonst können sie ärgerlich werden, die süßen Kleinen.

Ich hingegen habe als Kind nie genervt. Nicht, dass ich keine Fantasie gehabt hätte. Es lag vielmehr daran, dass ich mich regelmäßig in einen Ausguck verwandelt habe. Ein Ausguck ist der, der ganz oben im Mastkorb eines Schiffes steht und Ausschau hält. Ich kletterte auf Bäume und Garagendächer und sagte: »Ich bin jetzt ein Ausguck.« Und guckte. Ich machte Stürme durch, ließ mich von Wellen durchweichen und schrie: »Da ist es! Heiliges Land in Sicht! Iiiiiisrael, wir kommen!« Dann zuckten die Erwachsenen kurz zusammen, das war es dann aber auch. Wie gesagt: Ich nervte als Kind nicht.

pappbecher Dafür nerve ich heute als Erwachsene. Ich liebe es, mir fremde Identitäten zuzulegen. Im Coffeeshop zum Beispiel. Neuerdings muss man dort seinen Namen angeben. Der wird dann in fettem Schwarz auf den Pappbecher gekritzelt. Ich finde die Frage nach meinem Namen aber ziemlich intim. Als ich zum ersten Mal im Coffeeshop nach meinem Namen gefragt wurde, traf mich das völlig unvorbereitet. Ich war überfordert und gab keine Antwort, worauf ein mitleidiges »?« auf meinem Becher landete.

Beim zweiten Mal reagierte ich aggressiv. Ich zischte: »Katrin, Katrin heiße ich, und dass Sie mir das ja richtig schreiben, Katrin, wie die stumme Katrin mit der Trommel in Brechts Mutter Courage, nach der hat mich nämlich meine linke Mutter genannt, und die hatte allen Grund, links zu sein, und dass Sie mir da ja kein ›h‹ hineinschmuggeln!« »K.« stand dann auf meinem Becher. Mit Brecht fand ich das in Ordnung und zog stumm ab.

PSEUDONYM Gestern im Coffeeshop nannte ich mich dann Lily Brett. Ich liebe Lily Brett, aber noch mehr liebe ich ihren Namen. »Name?«, fragte mich das Mädchen hinter der Theke. »Lily Brett«, antwortete ich, und meinen Körper durchzog ein wohliges Gefühl. »Zusammen oder mit Bindestrich?« Ich muss so entsetzt geschaut haben, dass das Mädchen hinter der Theke völlig verängstigt eilig etwas auf den Becher kritzelte und ihn dann schnell an den Kollegen, der für den Inhalt zuständig war, weiterschob.

Dieser Kollege, ein junger Mann – ich hatte das Gefühl, ihn von irgendwoher zu kennen –, zwinkerte mir zu. Fast ein bisschen frivol, glaube ich. »Ein Latte ohne Milch, dafür aus enthärtetem Wasser des East River, selbstverständlich low-fat und wahrscheinlich koscher für …«, er machte eine Pause, »Lily Brett«. Na ja. Er hätte das nicht ganz so laut sagen müssen, aber egal, ich warf meine nicht vorhandenen schwarzen Locken nach hinten und fühlte mich verstanden.

Streaming

»Bros«: Zwei Trottel, eine Bar

Die erste rein hebräischsprachige und israelische Original-Produktion für Netflix startet heute weltweit

von Ayala Goldmann  18.04.2024

Interview

»Deutschland ist eine neurotische Nation«

Bassam Tibi über verfehlte Migrationspolitik, Kritik an den Moscheeverbänden und Ansätze für islamische Aufklärung

von Christoph Schmidt  18.04.2024

Verschwörungstheorien

Nach viel kritisiertem Israel-Hass-Video: Jetzt spricht Dieter Hallervorden

Der Schauspieler weist die Kritik an seiner Veröffentlichung zurück

 18.04.2024

Venedig

Israelhasser demonstrieren bei Kunstbiennale

Die Demonstranten forderten einen Boykott israelischer Künstler

 18.04.2024

Klassik

Eine Liebeserklärung an die Mandoline

Der israelische Musiker Avi Avital verleiht Komponisten wie Bach oder Vivaldi einen unverwechselbaren neuen Touch

von Christine Schmitt  18.04.2024

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 18.04.2024

Restitution

Bundesregierung will Herausgabe von NS-Raubkunst erleichtern

Gesetzentwurf sieht unter anderem einen Auskunftsanspruch gegenüber Personen vor, die NS-Raubkunst in Verkehr bringen

 17.04.2024

Berlin

Wenn aus Projektionen Projektile werden

Experten diskutierten bei einer Tagung der Bildungsabteilung im Zentralrat, wie anti-israelische Obsessionen wirken

von Mascha Malburg  17.04.2024

Philosophie

Mit Sartre gegen die Enge

Vincent von Wroblewskys Autobiografie »Vermutlich Deutscher« ist ein kleines Meisterwerk

von Marko Martin  17.04.2024