Finale

Der Rest der Welt

Ich gehe gerne auf Flohmärkte. Dort treffe ich meine russischen Freunde, die auch gerne auf Flohmärkte gehen, und die mit den Verkäufern, die auch zu meinen russischen Freunden gehören, ein bisschen handeln und mit Dingen ihre Plastiktüten füllen, von denen ich nichts verstehe. Die meisten Flohmärkte sind samstags, aber es gibt auch welche mittwochs. Wenn ich mich also mittwochs unter meine russischen Freunde mische, frage ich mich, wonach ich eigentlich suche.

Meine beiden Zimmer platzen aus allen Nähten. Trotzdem fülle auch ich meine Plastiktüten. Und wenn es nicht ganz anders wäre, würde ich gerne einen Bogen spannen von den französischen Surrealisten des frühen 20. Jahrhunderts bis zu mir. Weil das so unglaublich kreativ und intellektuell klingt, und die es nämlich auch liebten, auf Flohmärkte zu gehen, die aber genau wussten, wonach sie suchten, nach dem »Objet trouvé« nämlich, einem Gegenstand »veraltet, kaputt, nutzlos, nahezu unbegreiflich – kurz pervers«, wie André Breton sagte. Ich bin nicht besonders intellektuell und alles, was ich in meinen Plastiktüten nach Hause trage, sind Bücher. Jedes Mal Bücher, wahllos an mich gerafft, Bücher und sonst nichts.

S-Bahn Letztes Mal, es war ein Mittwoch, landete ein verblasster Band in meiner Tüte mit dem rätselhaften Titel Die Pflicht, glücklich zu sein, geschrieben von Émile Chartier, einem französischen Denker, der seinen Lesern zwischen den Kriegen weise Ratschläge verpasste. Ich sah das Buch und fühlte mich nach all den Jahren verpflichtet.

Schon in der S-Bahn begann ich zu lesen: »Wenn ein kleines Kind schreit und sich um keinen Preis beruhigen lassen will, stellt die Amme oft die abenteuerlichsten Vermutungen über den Charakter an. Selbst die Vererbungstheorie ruft sie zur Hilfe – und sie fährt fort in diesen psychologischen Hypothesen, bis sie die Nadel, die wirkliche Ursache des ganzen Aufruhrs, entdeckt.« Ein Henkel einer meiner Plastiktüten riss, und ich fühlte meine Pflicht, glücklich zu sein, beinahe körperlich.

Augenblicklich warf ich die »Hypothese«, dass sich hinter der Beschneidungsdebatte uralter Antisemitismus verberge, einfach über Bord. Augenblicklich warf ich die Reduzierung aller Probleme auf den Vorwurf des uralten Antisemitismus einfach über Bord. Mir fiel der Witz ein, vom jüdischen Stotterer, der beim Hörfunk keine Anstellung findet und »Al-les An-an-ti-ti-se-mi-miten« schimpft. Und ich musste lachen. Seit Wochen konnte ich wieder lachen unter der »Pflicht, glücklich zu sein« und ich traute mich der Nadel, der eigentlichen Ursache des Aufruhrs, einen Namen zu geben.

Ich nannte sie ganz einfach »Gesetzeslücke«, und ich füllte diese Gesetzeslücke, und über mir schwebte für alle sichtbar eine Gedankenblase, die sich mit den Worten füllte, »lasst die Juden einfach machen, was sie für richtig halten«, und ich hob samt Plastiktüten ein bisschen ab Richtung Gedankenblase. Und alles nur, weil ich glücklich sein wollte. Und weil es mir manchmal an jeder Intellektualität fehlt.

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  19.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  19.11.2025

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  19.11.2025

Magdeburg

Telemann-Preis 2026 für Kölner Dirigenten Willens

Mit der Auszeichnung würdigt die Landeshauptstadt den eindrucksvollen Umgang des jüdischen Dirigenten mit dem künstlerischen Werk Telemanns

 19.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025

Kino

Unter erschwerten Bedingungen

Das »Seret«-Festival zeigt aktuelle israelische Filmkunst in Deutschland – zum ersten Mal nur in Berlin

von Chris Schinke  19.11.2025

Bonn

Bonner Museum gibt Gemälde an Erben jüdischer Besitzer zurück

Das Bild »Bäuerliches Frühstück« aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird restituiert

 19.11.2025

Perspektive

Humor hilft

Über alles lachen – obwohl die Realität kein Witz ist? Unsere Autorin, die israelische Psychoanalytikerin Efrat Havron, meint: In einem Land wie Israel ist Ironie sogar überlebenswichtig

von Efrat Havron  19.11.2025

New York

Rekordpreis für »Bildnis Elisabeth Lederer« bei Auktion

Bei den New Yorker Herbstauktion ist wieder ein Rekord gepurzelt: Ein Klimt-Gemälde wird zum zweitteuersten je versteigerten Kunstwerk – und auch ein goldenes Klo wird für einen hohen Preis verkauft

von Christina Horsten  19.11.2025