Finale

Der Rest der Welt

Schön oder zu lang? Foto: Thinkstock

Finale

Der Rest der Welt

Die Scheitel der Mütter oder Zwischen Crown Heights und Neuharlingersiel

von Ayala Goldmann  13.06.2017 12:05 Uhr

Unter den Eltern der Bnos-Menachem-Mädchenschule in Brooklyn herrscht helle Aufregung: Direktor Motty Gurary hat einen neuen »Tznius-Dresscode« erlassen. Der gilt nicht für Schülerinnen, sondern für Mütter, und lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: »No denim« – keine Jeans, keine Leggins, keine Röcke auf Knielänge, vor allem aber keine schicken Scheitel, deren Kunsthaar länger reicht als über die Schulterblätter der tzniusdiken Mamme.

Auf der Website crownheights.info ist daraufhin eine leidenschaftliche Online-Debatte mit bereits 183 Beiträgen ausgebrochen. User »Tznius is true beauty«, verteidigt den Direx, User »More for Tattys« dagegen fordert adäquate Dresscodes auch für Väter (»keine gestutzten Bärte, chassidische Haarschnitte!«). Andere Debattenteilnehmer möchten Jacken aus Krokodilleder verbieten.

Perücke User »Citizen Berel« wiederum weist darauf hin, dass keine ultraorthodoxe Frau in Brooklyn freiwillig auf das Tragen ihres Langhaarscheitels verzichten wird: »Die Idee ist gut, aber sie wird nicht funktionieren. Diese Perücken kosten zwischen 2000 und 3000 Dollar. Wie viele werden nun weggeworfen aufgrund des Briefs des Schulleiters? Keine einzige!«

Lebte ich in New York und hätte eine Tochter, wäre sie nie in die Bnos-Menachem-Schule aufgenommen worden: Bekanntermaßen trage ich keinen Scheitel. Ich muss aber einräumen: Je älter ich werde, desto praktischer erscheint mir die Idee. Um Haaransätze zu färben, sitze ich mittlerweile alle fünf Wochen bei meiner Friseurin. Würde ich mich mit einem Scheitel in Kinnlänge zufriedengeben, hätte er sich bereits nach 18 Monaten amortisiert!

Ask the Rabbi Beim Limmud-Festival in Neuharlingersiel an der Nordsee waren Frauen mit Scheitel übrigens wieder eine verschwindende Minderheit. Ich selbst bin in knielangem Rock mit meinem Sohn hingefahren, der eine staatliche Schule besucht – ein bisschen »Jüdischkeit« muss doch hin und wieder sein. Ein Teilerfolg war zu verzeichnen: Der Achtjährige hat beim Kinder-Workshop »Ask the Rabbi« mitgemacht. Hinterher behauptete er, der liberale Rabbiner sei hochintelligent, denn er habe es geschafft, die Quadratwurzel aus Dreimillionensiebenhundertzweiundachtzigtausendeinhundertvierunddreißig zu ziehen.

Außerdem stellte mein Sohn spitzfindige Fragen wie: »Mama, ist der Galgen koscher?« Ich war verwundert: »Hinrichtung ist Mord, und Mord ist verboten«, sagte ich. »Dann waren die Juden in Persien auch nicht koscher«, folgerte der Junge, »sie haben Haman an den Galgen gehängt!«

Mir wiederum erzählte der Rabbi im gekascherten Speisesaal zweideutige Witze, über die ich immer wieder lache, obwohl ich sie alle schon kenne (der Rabbi und ich sind nicht mehr die Jüngsten). Trotzdem fragte ich mich: Vielleicht sollte ich meinen Rock auf »mid-calf«-Länge bringen, endlich den Scheitel aufsetzen und Urlaub in Brooklyn machen? Dort könnte ich alternative Erfahrungen sammeln: In Crown Heights werden sicherlich alle Rabbiner angesichts einer züchtigen jüdischen Mutter schweigen und den Blick senken!

Gespräch

Warum Uschi Glas bei Antisemitismus nicht schweigen will

Uschi Glas spricht mit Charlotte Knobloch über Schweigen und Verantwortung in Zeiten eines wachsenden Antisemitismus. Und entdeckt ein unbekanntes Kapitel in ihrer Familiengeschichte

 10.11.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Friede, Freude, Eierkuchen oder Challot, koschere Croissants und Rugelach

von Margalit Edelstein  09.11.2025

Geschichte

Seismograf jüdischer Lebenswelten

Das Simon-Dubnow-Institut in Leipzig feiert den 30. Jahrestag seiner Gründung

von Ralf Balke  09.11.2025

Erinnerung

Den alten und den neuen Nazis ein Schnippchen schlagen: Virtuelle Rundgänge durch Synagogen

Von den Nazis zerstörte Synagogen virtuell zum Leben erwecken, das ist ein Ziel von Marc Grellert. Eine Internetseite zeigt zum 9. November mehr als 40 zerstörte jüdische Gotteshäuser in alter Schönheit

von Christoph Arens  09.11.2025

Theater

Metaebene in Feldafing

Ein Stück von Lena Gorelik eröffnet das Programm »Wohin jetzt? – Jüdisches (Über)leben nach 1945« in den Münchner Kammerspielen

von Katrin Diehl  09.11.2025

Aufgegabelt

Mhalabi-Schnitzel

Rezepte und Leckeres

 09.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  09.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  08.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  08.11.2025