Finale

Der Rest der Welt

Wahrscheinlich erwarten Sie jetzt irgendwelche jüdischen Weisheiten zum neuen Jahr. Ich habe aber nichts zu bieten – ebenso wenig wie originelle Feiertagsstorys. Wir sitzen auch nicht mit einer riesigen Familie um einen gedeckten Tisch und singen jiddische Lieder, so wie bei Scholem Alejchem oder bei meiner Großmutter aus Warschau, die neun Kinder zur Welt brachte.

Wir sind zu dritt: mein Mann, mein Sohn und ich. Auch bei meinen Eltern war Rosch Haschana völlig unspektakulär. Es gab Äpfel mit Honig, meine Mutter kochte ein schönes Essen, und dann hörten wir Festlieder von Ilanit: die alte Platte von 1972, die meine Schwester und ich rauf und runter nudelten, wobei wir unsere Eltern mit den Songs des gesamten jüdischen Jahres nervten, von Purim über Chanukka bis Schawuot.

Äpfel Eigentlich war ich bislang mit Erew Rosch Haschana immer zufrieden. Weil Frauen in Wirklichkeit aber nie zufrieden sind, bilde ich mir ein, meinem Sohn – inzwischen ist er fünfeinhalb – mehr bieten zu müssen als Äpfel und Honig mit Mama und Papa. Leider gibt es auch dieses Jahr keine große Familienfeier. Meine Eltern sind weit weg, mein Schwager singt als Chasan in fernen Landen. Also werde ich ein schönes Essen kochen, und dann gibt es Äpfel und Honig. Und natürlich die CD von Ilanit ...

Die einzige Neuerung: Wir gehen am ersten Feiertag zum Taschlich an die Spree – zum ersten Mal in meinem Leben. Schließlich habe ich in 5774 obsessiv gesündigt: Bis zu den letzten Tagen des Monats Elul habe ich meinen Mann mit dem Wunsch nach einer großen Familie genervt, die sich am Feiertagstisch drängt. Wie bei meinem Vater, dem Jüngsten von sieben Geschwistern, die sich jeden Freitagabend ein Huhn so teilten, dass jedes Kind »ein Viertel« bekam …

Schwangerschaften Mit dieser Lüge machte meine Großmutter, sichrona livracha, ihren Kindern weis, dass es für jedes ihrer Kinder einen vollen Fleischteller gab. Würde ich wirklich tauschen wollen? Meine Großmutter war 13-mal schwanger. Das erste Kind mit 18, das letzte mit 36, eines starb nach der Geburt, eines als Kleinkind, dazwischen vier Fehlgeburten. Ich, ihre Enkelin, habe alle Freiheiten, einen Beruf und eine Familie. Warum sollte es ein schlimmes Schicksal sein, ein Einzelkind großzuziehen?

Ich gebe zu: In der Synagoge werde ich weghören, wenn die Story gelesen wird, wie Sara lachte, als Gott ihr mit 90 noch ein Kind ankündigte. Ich bin bald halb so alt wie Sara, aber an solche Wunder glaube ich nicht.

Und den Taschlich werde ich in meinem Sinne umfunktionieren: Die Brotkrumen, die ich in die Spree werfen werde, sind Wünsche, die keiner erfüllen kann. Oder wie es zur Neila an Jom Kippur heißt: Öffne uns das Tor zur Zeit, da die Tore sich schließen … Welch wahres Wort in der Mitte des Lebens! Mögen alle Frauen eingeschrieben sein ins Buch des Lebens – mit einem, neun oder ohne Kinder. In diesem Sinne: Schana Towa!

Musik

»Piano Man« verlässt die Bühne: Letztes Billy-Joel-Konzert

Eine Ära geht zuende: Billy Joel spielt nach zehn Jahren vorerst das letzte Mal »Piano Man« im New Yorker Madison Square Garden. Zum Abschied kam ein Überraschungsgast.

von Benno Schwinghammer  26.07.2024

Zahl der Woche

16 Sportarten

Fun Facts und Wissenswertes

 26.07.2024

Lesen!

Ein gehörloser Junge und die Soldaten

Ilya Kaminsky wurde in Odessa geboren. In »Republik der Taubheit« erzählt er von einem Aufstand der Puppenspieler

von Katrin Diehl  25.07.2024

Ruth Weiss

»Meine Gedanken sind im Nahen Osten«

Am 26. Juli wird die Schriftstellerin und Journalistin 100 Jahre alt. Ein Gespräch über ihre Kindheit in Südafrika, Israel und den Einsatz für Frauenrechte

von Katrin Richter  25.07.2024

Streaming

In geheimer Mission gegen deutsche U-Boote

Die neue Action-Spionagekomödie von Guy Ritchie erinnert an »Inglourious Basterds«

von Patrick Heidmann  25.07.2024

Bayreuth

Das Haus in der Wahnfriedstraße

Die Debatten um Richard Wagners Judenhass gehen in eine neue Runde. Nun steht sein antisemitischer Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain im Fokus

von Axel Brüggemann  25.07.2024

Sehen!

»Die Ermittlung«

Der Kinofilm stellt den Aussagen der Zeugen die Ausflüchte der Angeklagten gegenüber

von Ayala Goldmann  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Literatur

Dieses Buch ist miserabel. Lesen Sie dieses Buch!

Eine etwas andere Kurzrezension von Ferdinand von Schirachs Erzählband »Nachmittage«

von Philipp Peyman Engel  24.07.2024 Aktualisiert