Statistik

Der Prophet des Präsidenten

Um es bei Twitter zu einem Hashtag zu bringen, also dem Zeichen #, verbunden mit dem eigenen Namen, muss schon einiges passieren. Der Statistiker Nate Silver schaffte dies am Abend der US-Wahl ganz mühelos – schließlich gilt er als der große Gewinner der Wahl, denn er hatte die Ergebnisse in jedem einzelnen Bundesstaat richtig vorausgesagt. Wobei »vorausgesagt« sicher kein Wort ist, das Silver gelten lassen würde – er bemüht sich schließlich, seine Analysen als Ergebnisse rationaler Berechnungen und Überlegungen zu erklären.

Dass der in Interviews etwas schüchtern und trocken wirkende 34-Jährige derzeit gefeiert wird, liegt jedoch nicht nur an seinen Fähigkeiten. »Ein Sieg der Geeks«, titelten Blogs nach der Wahl, aber die Begeisterung über Nate Silver lässt sich nicht nur mit der Erleichterung junger, internetaffiner Amerikaner über die Wiederwahl von Präsident Obama erklären. Die meisten Silver-Fans sind wohl auch deswegen so froh über seine richtigen Analysen, weil sie in den vergangenen Wochen die Attacken aus dem Romney-Lager gegen Silver mitbekommen haben. Ein Journalist mit dem Pseudonym Mobutu Sese Seko fasste im renommierten New Yorker Mega-Blog Gawker die Häme und Hetze gegen Silver sarkastisch mit den Worten »Silvers Mathematik ist falsch, weil er schwul ist« zusammen.

Angriffe Zuvor hatte der ultrakonservative Meinungsforscher Dean Chambers Silver als »dünnen und femininen Mann« bezeichnet, dessen »softe Stimme ungefähr so klingt wie die von Mr. Castrato« (eine Puppe, die Rush Limbaugh in seinem Programm benutzt). Weiter sagte er: »Wie die meisten Liberalen und Linken ist auch Silver zwar vielleicht von durchschnittlicher Intelligenz, aber sicher lange nicht das Genie, für das er gehalten wird.«

Ob solche Angriffe Silver verletzt haben, ist nicht bekannt. Seine Erwiderungen waren immer rational und nie persönlich. Wahlforscher erweckten oft den Eindruck, dass sich das Wählerverhalten in kürzester Zeit dramatisch ändere, sagte Silver im Interview mit dem US-Sender PBS. In Wirklichkeit spielten nur wenige Punkte bei der Wahlentscheidung eine Rolle, und die Wähler seien daher berechenbar. Er störe mit seinen relativ exakten Berechnungen wohl »die Geschichten, die Meinungsforscher und Journalisten so gern erzählen«.

1987 als Sohn von Brian David Silver, Chef der Politikfakultät an der Universität Michigan, und dessen Frau Sally, einer Bürgerrechtlerin, geboren, entdeckte Nate schon früh die Mathematik. Und Baseball. Beide Interessen sollten zum beruflichen Erfolg führen. Von 2002 bis 2003 entwickelte er PECOTA, einen Algorithmus für die Berechnung von Spielerleistungen, mit dessen Hilfe er Saisonverläufe im Baseball exakt vorausberechnen konnte. Nicht alle Fans waren glücklich über Silvers präzise Analysen, man warf ihm vor, die Magie aus dem Spiel zu nehmen. Neu dürften diese Angriffe schon damals nicht gewesen sein, wie ein Blick ins College-Jahrbuch zeigt. Silver sieht auf den Bildern jener Zeit aus wie ein typischer Nerd, der sich in einem viel zu großen Kapuzenpulli versteckt.

Blogger Nachdem Silvers Baseball-Algorithmus ein riesiger Erfolg wurde, verpflichtete die New York Times ihn als Blogger. Silver hatte schon seit 2007, zunächst unter Pseudonym, auf seinem Blog fivethirty-eight.com immer wieder über Politik geschrieben – und 2008 die Ergebnisse der Präsidentenwahl exakt vorausberechnet.

Wie genau Silver zu seinen Ergebnissen kommt, verrät er nicht – und schon gar nicht den Algorithmus. Was er allerdings bereitwillig erklärt, sind die Komponenten, aus denen er seine Prognosen zusammensetzt. Existierende Meinungsumfragen bilden die Basis seiner Berechnungen. Je mehr Leute befragt wurden, umso wichtiger ist eine Umfrage für Silver. Dazu bewertet er auch, wie seriös die Meinungsforscher arbeiten und wie zutreffend ihre bisherigen Prognosen waren. Anschließend werden die Daten anhand diverser Kriterien wie allgemeinen Trends und der politischen Ausrichtung des Instituts justiert.

Das ganze Jahr 2012 über hatte Silver stur daran festgehalten, dass Obama wiedergewählt werden würde – trotz diverser Umfragen, die ein knappes Rennen zwischen ihm und Romney prognostizierten. Er benutze Mathematik sowie geschichtliche Daten und veranstalte keinen Hokuspokus, verteidigte Silver seine Analysen – und erklärte wenige Tage vor der Wahl kühl, dass Obama auch Florida gewinnen werde. Der Statistiker blieb am Wahltag übrigens zu Hause: Kritiker hatten ihm vorgeworfen, dass er aus seinen Sympathien für Obama nie ein Hehl gemacht habe. Vielleicht wusste er auch schon, dass seine Stimme nicht dringend gebraucht wurde.

Ein bisschen unsicher war Silver am Wahltag dann doch. In der Nacht davor habe er nicht schlafen können, sagte er. Und auf die Frage, ob er sich Sorgen gemacht habe, dass doch unplanmäßig Romney gewinnt und seine Karriere damit beendet wäre, antwortete er: »Ob meine ganze Karriere auf dem Spiel gestanden hätte, weiß ich nicht, aber um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass ich noch weiter hätte über Politik bloggen können.« Dann wäre Silver immer noch das zweite Standbein seiner Karriere geblieben: die Vorausberechnung von Terroranschlägen und Naturkatastrophen.

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