Kino

Der Nazi-Enkel und die französische Jüdin

Es ist kompliziert: Toto und Zazie nähern sich nach einem nicht ganz reibungslosen Start immer mehr an. Foto: Edith Held / Four Minutes Filmproduktion

Ernst Lubitsch und Charlie Chaplin waren die Ersten, die von der NS-Zeit im Genre der Komödie erzählten, noch während des Zweiten Weltkriegs. Sein oder Nichtsein und Der große Diktator zeigten die Nazis als die lächerlichen Figuren, die sie eben auch waren, und verharmlosten sie nicht stärker, als das Genre es, wahrscheinlich zwangsläufig, erfordert. Chaplin allerdings erklärte nach der Befreiung, hätte er vom Ausmaß der Verbrechen der Deutschen gewusst, er hätte seinen Film nicht drehen können.

Chris Kraus’ Film Die Blumen von gestern, der diese Woche in die Kino kommt, erzählt nun von einem Mann, der vom Ausmaß dieser Verbrechen weiß. Totila Blumen, genannt Toto, ist Historiker bei der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg. Lars Eidinger spielt ihn als überempfindlichen, verzweifelt übersteuerten Choleriker, der gleich zu Beginn seinen Kollegen (Jan Josef Liefers) verprügelt. Es geht um die Frage, ob ein Auschwitz-Kongress von Sponsoren finanziert werden darf oder nicht. Dass Toto nicht nach drei Minuten Filmzeit gefeuert wird, ist die erste von vielen gewagten Ideen des Drehbuchs.

Screwball Die Prämisse des Films ist vielversprechend: nach Das Leben ist schön und Mein Führer eine Komödie zu drehen, die nicht direkt von der Schoa, sondern von den grotesken Versuchen deutscher Vergangenheitsbewältigung erzählt. Die zeigen sich spätestens, als Toto und die Praktikantin Zazie (Adèle Haenel) sich ineinander verlieben. Zazie ist französische Jüdin, ihre Großmutter wurde von den Nazis ermordet – von Totos Großvater.

Betroffenheitsgesten vermeidet der Film, das Drehbuch versucht sich an der Dekonstruktion wohlfeiler moralischer Überlegenheit der Figuren. »Ich bin Historiker. Ich hab’ gute Bücher geschrieben, sehr gute Bücher«, beschwert sich Toto. »Und ich hab’ mich immer von dem Gedanken leiten lassen, dass nichts verwerflicher ist als die Kommerzialisierung menschlichen Leids.« »Ja«, ergänzt Zazie – »aber keiner mag Sie.« In ihren besten Momenten schließen die Dialoge an die altehrwürdige Screwball-Tradition an. Selten genug in deutschen Komödien.

Die jeweiligen Beschädigungen der Nachgeborenen werden in Die Blumen von gestern nicht eben subtil ausgestellt. Zazie agiert nicht weniger hochtourig als der misanthropische Geschichtswissenschaftler mit – Totos Selbstbeschreibung – »nationalsozialistischem Hintergrund«. Beim ersten großen Streit schmeißt sie einen Hund, einen Mops genauer gesagt, aus dem fahrenden Wagen, wenig später schüttet sie sich im Affekt einen Eimer roter Farbe über den Kopf.

Trauer Und in dieser Temperatur geht es weiter: Alles, was der Film an Wunden und Traumata diagnostiziert, benennt er so deutlich wie möglich; entweder, indem es von den Figuren ausgesprochen oder als hysterische Ersatzhandlung vorgeführt wird. Für die Trauer über das Zerschlagene, das nicht wieder zusammengefügt werden kann, bleibt nur der Soundtrack, der das Geschehen mittels lakonischem Chanson-Einsatz melancholisch einfärbt.

Der Plot springt derweil munter von einer Ausnahmesituation zur nächsten: drastisch-komische Dialogzeilen (»Ein Holocaustforscher mit Humor ist wie ein Popo ohne Loch«), Schlägerei mit Neonazis, Totos Frau geht fremd, eine renitente Überlebende macht sich über den Forscher lustig, Suizidversuch, immer wieder Geschrei, dann wieder ein Witz. Platz für Leerstellen lässt der – allein schon wegen der überzeugenden Schauspieler sehenswerte – Film in seiner Überdeutlichkeit keine.

Am Ende bleibt der Eindruck, dass Die Blumen von gestern erkennbar von der Lust an der Provokation beseelt ist und seinem Publikum dann doch nicht so recht über den Weg traut. Was den Eindruck des Grotesken allerdings eher verstärkt als unterläuft.

Musik

»Piano Man« verlässt die Bühne: Letztes Billy-Joel-Konzert

Eine Ära geht zuende: Billy Joel spielt nach zehn Jahren vorerst das letzte Mal »Piano Man« im New Yorker Madison Square Garden. Zum Abschied kam ein Überraschungsgast.

von Benno Schwinghammer  26.07.2024

Zahl der Woche

16 Sportarten

Fun Facts und Wissenswertes

 26.07.2024

Lesen!

Ein gehörloser Junge und die Soldaten

Ilya Kaminsky wurde in Odessa geboren. In »Republik der Taubheit« erzählt er von einem Aufstand der Puppenspieler

von Katrin Diehl  25.07.2024

Ruth Weiss

»Meine Gedanken sind im Nahen Osten«

Am 26. Juli wird die Schriftstellerin und Journalistin 100 Jahre alt. Ein Gespräch über ihre Kindheit in Südafrika, Israel und den Einsatz für Frauenrechte

von Katrin Richter  25.07.2024

Streaming

In geheimer Mission gegen deutsche U-Boote

Die neue Action-Spionagekomödie von Guy Ritchie erinnert an »Inglourious Basterds«

von Patrick Heidmann  25.07.2024

Bayreuth

Das Haus in der Wahnfriedstraße

Die Debatten um Richard Wagners Judenhass gehen in eine neue Runde. Nun steht sein antisemitischer Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain im Fokus

von Axel Brüggemann  25.07.2024

Sehen!

»Die Ermittlung«

Der Kinofilm stellt den Aussagen der Zeugen die Ausflüchte der Angeklagten gegenüber

von Ayala Goldmann  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Literatur

Dieses Buch ist miserabel. Lesen Sie dieses Buch!

Eine etwas andere Kurzrezension von Ferdinand von Schirachs Erzählband »Nachmittage«

von Philipp Peyman Engel  24.07.2024 Aktualisiert