Geschichte

Der Erklärer

Zu seinem 75. Geburtstag legt der Historiker Michael Wolffsohn sein Opus magnum vor

von Daniel Killy  17.05.2022 08:36 Uhr

1947 in Tel Aviv geboren: der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn Foto: imago/Lumma Foto

Zu seinem 75. Geburtstag legt der Historiker Michael Wolffsohn sein Opus magnum vor

von Daniel Killy  17.05.2022 08:36 Uhr

Ein 75. Geburtstag ist meist Anlass für ausführliche Würdigungen, die sich häufig schon beinahe wie Nekrologe lesen – auch wenn sich die Jubilare bester Gesundheit erfreuen. Michael Wolffsohn, in Tel Aviv geborener, langjähriger Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr München, seit Jahrzehnten erklärender Mahner und mahnender Erklärer nicht nur jüdischer Zeitläufte, feiert am 17. Mai seinen 75.

Der Historiker und Publizist, bekannt für präzise Analysen über ideologische Schützengräben hinweg, hat pünktlich zum Festtag sein Opus magnum vorgelegt, auf dass alle abschließenden Würdigungen umgeschrieben oder zumindest eilig aktualisiert werden müssen.

Ob das Datum der Publikation Absicht ist oder nicht, Michael Wolffsohn schreibt mit Eine andere Jüdische Weltgeschichte buchstäblich Geschichte. Es gibt etliche Abhandlungen deutscher Sprache über das Judentum. Seit Heinrich Graetz’ epochaler elfbändigen Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart im 19. Jahrhundert eint eine überwältigende Mehrzahl von ihnen, dass sie von Nichtjuden verfasst wurden.

VOGELPERSPEKTIVE Bis heute herrscht ja bei Betrachtung und Analyse jüdischer Angelegenheiten hierzulande ein seltsamer, gleichsam postkolonialer Umgang mit »dem jüdischen Volk« vor. Ähnlich wie im Umgang mit »afrikanischer« Geschichte. Es wird befunden und bewertet, die Vogelperspektive dominiert, was durchaus nicht mit Weitblick zu verwechseln ist.

Als der frankoafrikanische Historiker Joseph Ki-Zerbo (1922–2006), geboren im seinerzeitigen Obervolta und gestorben ebenda im heutigen Burkina Faso, im Jahr 1972 seine Histoire de l’Afrique noire (»Die Geschichte Schwarz-Afrikas«, deutsch bei S. Fischer) vorlegte, titelte die französische Tageszeitung »Le Monde«, die Geschichte Afrikas sei neu geschrieben worden. Es war eine ungeheure und längst überfällige intellektuelle Emanzipation der vormals Kolonialisierten von den vormaligen Kolonialherren, der Beginn der Rückgewinnung der Deutungshoheit über die eigene Historie.

Bis heute herrscht hierzulande ein seltsamer Umgang mit jüdischen Themen vor.

Damit, den Juden die Deutungshoheit über ihre eigene Geschichte inklusive der Schoa zu überlassen, tun sich die nichtjüdischen Deutschen bekanntermaßen schwer. Umso wichtiger ist dieses Buch. Michael Wolffsohns Blick auf die Geschichte der Juden muss ähnlich bewertet werden wie Ki-Zerbos vor 50 Jahren erschienenes Werk. Das liegt zum einen natürlich an der Perspektive des Buches, aber auch an Wolffsohns unverkennbarem Stilmittel: der wissenschaftlich profunden Darstellung komplexester Sachverhalte in stets verständlicher und packender Sprache.

VOLKSBEGRIFF Auf Deutsch zumindest hat noch nie jemand den unsäglichen Anwurf »Was seid ihr denn nun eigentlich – Volk oder Religion?« so elegant gekontert und ad absurdum geführt: »Religions- und Volksbegriff, Theologie und Ethnologie, Individuum und Kollektiv sind im jüdischen Religionsbegriff nicht wirklich voneinander zu trennen. Das Judentum ist nicht nur eine Religion. Es ist die Religion des jüdischen Volkes. Jedenfalls wurde sie so konzipiert und realisiert«, schreibt Wolffsohn.

Man sei entweder Jude durch Geburt (als Kind einer jüdischen Mutter) oder man konvertiere. Das gleiche den Regelungen von Staatsbürgerschaften und den Gepflogenheiten anderer Religionen. Weiter heißt es: »Üblicherweise hat ein Volk ein Land, lebt jedenfalls auf einem Territorium. Das war bei den Juden in den Jahren 70 bis 1948 anders. Ihre geistig-geistliche Führung wollte dieses Volk ohne Land als Volk erhalten. Mangels eines jüdischen Territoriums machten die talmudischen Weisen Blut zum besonderen Saft, zum jüdischen Bindemittel.«

Wolffsohn stellt komplexe Sachverhalte in stets verständlicher und packender Sprache dar.

Auch religiöse, scheinbar unverrückbare Wahrheiten nimmt Michael Wolffsohn unter die Lupe. In analytisch-distanziertem Duktus, durchbrochen von einem manchmal leicht sarkastischen Unterton, fördert er für manchen Ungeheuerliches zutage: Es wurde durchaus Schwein und Fisch gegessen in der Judenheit zu Zeiten des Zweiten Tempels.

BRIT MILA Damit nicht genug. Wolffsohn schlägt auch einen Bogen von Isaak zur Brit Mila: »Die alttestamentlich biblische Erzählung von der Beschneidung finden wir in der Abraham-Geschichte. In Genesis 17 gebietet, ja befiehlt Gott dem Stammvater, die Vorhaut seiner Nachfahren als Zeichen des Bundes mit dem Ewigen zu beschneiden. Scheinbar fehlt jegliche Begründung. Tatsächlich findet man sie in der Darstellung der (nicht erfolgten) Opferung Isaaks in Genesis 22.« Diese Geschichte von der Opferung Isaaks sei, führt Wolffsohn aus, »die meisterhafte literarische Übertragung eines menschheitsgeschichtlichen Vorgangs: des Übergangs vom Menschen- zum Tieropfer«. Der Grundgedanke des Menschenopfers sei gewesen: »Man opfert Gott sein Liebstes.«

Der Urgedanke des Menschenopfers liege der Beschneidung zugrunde: »Sie ist der Ersatz für das ›Ganzkörperopfer‹. Ein Stück des dem Manne liebsten und zur Menschheitsvermehrung notwendigen Körperteiles wird geopfert.«

»Eine andere Jüdische Weltgeschichte« gehört in alle Klassenzimmer und Hörsäle der Republik.

Nach der nicht erfolgten Opferung Isaaks erzähle die Bibel nicht von weiteren Begegnungen oder Wortwechseln zwischen Vater und Sohn oder von Abraham und seiner Frau Sara. Darin sieht Wolffsohn einen weiteren Beleg für die »intellektuelle und literarische Genialität der Bibeldichter«. In deren Anbetracht dürfte dieser Umstand kein Zufall sein, und seine Botschaft sei leicht erkennbar: »Opferungen der einen oder anderen Art sind dem inneren Frieden der Familie nicht unbedingt förderlich. Der Grund lautet: Dieses Brauchtum war umstritten. Sogar in der Familie Abrahams.«

Und selbst Moses, der »größte jüdische Prophet«, bemerkt Wolffsohn weiter, habe seinen ältesten Sohn nicht beschnitten: »Die Bibel verrät es unumwunden. Die Beschneidung holte seine nichtjüdische (!) Frau, Zippora, nach (Exodus 4, 24–26). Womit wir, die Bibel wörtlich interpretierend, unversehens in ein anderes hilachisches (jüdisch-religionsgesetzliches), absurdes Problem geglitten sind: Moses’ direkte Nachkommen waren keine Juden, denn, wie erwähnt, Jude ist nur, wer als Kind einer jüdischen Mutter geboren wird oder zum Judentum übertritt.«

LEICHTIGKEIT Ein langes Zitat. Aber es spiegelt Methodik und Seele dieses Buches sowie des Wirkens von Michael Wolffsohn wider: mit Leichtigkeit schwierige Dinge zu erläutern, dabei niemals im Mainstream zu segeln und immer wieder Erstaunliches und im Wortsinn Wissenswertes zutage zu fördern.

Eine andere Jüdische Weltgeschichte jedenfalls gehört auf alle Nachttische der Republik, in alle Klassenzimmer und Hörsäle des Landes. Wer dieses Buch gelesen hat, ist hinterher um Wesentliches klüger. Das gilt übrigens auch und ganz besonders für uns Juden.

Michael Wolffsohn: »Eine andere Jüdische Weltgeschichte«. Herder, Freiburg 2022, 368 S., 28 €

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