Mentalität

Das Ende des Kuscheljuden

Ghettojuden sahen anders aus, Jüdinnen erst recht: Israelische Infanteristin in der Grundausbildung Foto: Flash 90

Alle Welt fürchtet einen Militärschlag Israels gegen den Iran. Weltuntergangsszenarien werden an die Wand gemalt. Die Welt versteht die Juden nicht mehr. Einst waren sie wehrlos. Wie die Lämmer ließen sie sich nicht nur von den Nazis und ihren helfenden Mordgesellen zur Schlachtbank führen. Und nun das: die Militanz der jüdischen Israelis und der Diasporajuden, die schon vorab Israels knallhart kriegerisches Vorgehen rechtfertigen.

mythen Der Zionismus hat den wehrlosen Diasporajuden in einen wehrhaften Israeli verwandelt. Das passt nicht ins traditionelle Bild. Der wehrlose Jude ist ein Mythos, an den sich vor allem Nichtjuden, aus welchen Gründen auch immer, gerne gewöhnt haben. Antisemiten, weil jüdische Wehrlosigkeit ihnen das mörderische Handwerk stets erleichterte. Andere, weil ihnen – wie sympathisch – Kuscheljuden lieber als Kriegsjuden sind, zumal Juden, die präventiv Krieg führen.

Dabei berufen diese Nichtjuden sich gelegentlich auch auf jüdische Kronzeugen aus der ultraorthodoxen Ecke. Wie jede religiöse Orthodoxie verstand und versteht die jüdische Orthodoxie Geschichte als Heilsgeschichte und als »Gottes Werk«. Das Exil der Juden, so einige Haredim, sei gottgewollt, und nur Gott dürfe, könne, werde es beenden. Er brauche dabei keine Nachhilfe durch den Menschen. Dass der Zionismus in Gottes Werk eingreife, den Judenstaat auf- und ausgebaut habe, sei deshalb gotteslästerlich. Mit Wehrhaftigkeit, Militanz und militärischem Aktivismus widersetzten sich Zionismus und der Staat Israel Gottes Gebot der passiven Hinnahme seines Heilsplanes. (Seltsamerweise nehmen dieselben Fundamental-orthodoxen aber immer wieder das Heft des Handelns selbst in die Hand und versuchen auf ihre Weise dem lieben Gott etwas nachzuhelfen. Nicht zuletzt in der manchmal durchaus militanten Bekämpfung nichtreligiöser Menschen, Sitten und Gebräuche in Israel, wie jüngst in Beit Schemesch geschehen).

religion Für die Orthodoxie insgesamt stehen diese Stimmen aber nicht. Seit circa 30 Jahren sind immer häufiger israelische Kaftan-, Bart- und Schläfenlockenjuden anzutreffen, die in der einen Hand das Gebetbuch tragen, in der anderen ein Gewehr, das sie gegebenenfalls, ohne lange zu zögern, auf Araber im Westjordanland richten und abdrücken. Den ebenso gläubigen wie kriegerischen Juden kennen wir von den Nationalreligiösen schon länger, besonders seit dem Sechstagekrieg von 1967. Damals vollzog die Mehrheit der Häkelkäppchen-und-Jeans-Juden ihre Wende zur Militanz. Ihr Tabubruch war dabei nicht ganz so eklatant wie der ihrer fundamentalorthodoxen Brüder. Das nationalreligiöse Judentum hat den vermeintlich gotteslästerlichen Zionismus seit jeher akzeptiert und mitgestaltet. Die religiöse Begründung: Zwar sei die Erlösung der Juden, das Ende ihres Exils, allein Gottes Werk, doch den »Beginn der Erlösung« (»Hatchala degeula«) dürfe der Mensch beschleunigen.

tradition Die Wehrfähigkeit der israelischen Juden heute, ebenso wie die Wehrlosigkeit ihrer Vorfahren in der Galut, ist weder theologisch noch ideologisch oder mental zu erklären. Sie ist historisch, also umstandsbedingt. Der wehrhafte Jude von heute hat zahlreiche geschichtliche Vorbilder. Die ältesten Belege dafür finden wir in Tora und Tanach. Für die präventiv-aktiv wehrhafte Landnahme der Juden nach ihrer nichthistorischen Flucht aus Pharaos Ägypten gibt es zwar keine historischen Belege. Die biblischen Erzählungen von den militärischen Schlägen und Siegen der Kinder Israels sind Mythen, keine Geschichte.

guerilla Durchaus historisch belegbar sind dagegen die meisten der in der Bibel beschriebenen Kriege der beiden jüdischen Königreiche; gegeneinander oder miteinander oder einzeln gegen nichtjüdische Völker. Ebenso historisch ist der erfolgreiche Krieg der Makkabäer gegen die Seleukiden, der Guerilla und Terror verbindende Kampf Judäas gegen die Römische Besatzung seit dem Tod Herodes’ (im Jahre 4), der verlorene Jüdische Krieg (66–70) sowie der zweite große jüdische Aufstand gegen Rom unter Bar Kochba (132–135). Auch außerhalb Judäas widersetzten sich im zweiten nachchristlichen Jahrhundert jüdische Gemeinschaften, vornehmlich im östlichen Mittelmeerraum, der römischen Unterdrückung.

Mangels Möglichkeiten folgten knapp 2.000 Jahre jüdischer Wehrlosigkeit. Im Angesicht der »Endlösung« aber griffen Juden, wo und so sie konnten – die Möglichkeiten waren selten – zu den Waffen: Die Helden des Warschauer Ghettos, die jüdischen Partisanen hinter der Ostfront, diejenigen, die in den NS-Vernichtungshöllen Aufstände wagten. In dieser Tradition begreift sich auch der wehrhafte Zionismus des Staates Israel heute. Mit allen nötigen Konsequenzen.

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025

Erinnerung

Stimmen, die bleiben

Die Filmemacherin Loretta Walz hat mit Überlebenden des KZ Ravensbrück gesprochen – um ihre Erzählungen für die Zukunft zu bewahren

von Sören Kittel  07.11.2025

New York

Kanye West bittet Rabbi um Vergebung

Der gefallene Rapstar Kanye West hat sich bei einem umstrittenen Rabbiner für seine antisemitischen Ausfälle entschuldigt

 07.11.2025

Rezension

Mischung aus Angst, alptraumhaften Erinnerungen und Langeweile

Das Doku-Drama »Nürnberg 45« fängt die Vielschichtigkeit der Nürnberger Prozesse ein, erzählt weitgehend unbekannte Geschichten und ist unbedingt sehenswert

von Maria Ossowski  07.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  07.11.2025

Paris

Beethoven, Beifall und Bengalos

Bei einem Konzert des Israel Philharmonic unter Leitung von Lahav Shani kam es in der Pariser Philharmonie zu schweren Zwischenfällen. Doch das Orchester will sich nicht einschüchtern lassen - und bekommt Solidarität von prominenter Seite

von Michael Thaidigsmann  07.11.2025

TV-Tipp

Ein Überlebenskünstler zwischen Hallodri und Held

»Der Passfälscher« ist eine wahre und sehenswerte Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der 1942 noch immer in Berlin lebt

von Michael Ranze  07.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  07.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  07.11.2025