Kunst

»Das Alef sitzt dort allein«

Fishel Rabinowicz lebt in Locarno. Foto: Gamaraal Foundation

Kunst

»Das Alef sitzt dort allein«

Fishel Rabinowicz ist im Alter von 100 Jahren gestorben. Lesen Sie hier unser letztes Interview mit dem Schweizer Schoa-Überlebenden

von Peter Bollag  01.11.2024 10:46 Uhr Aktualisiert

Hinweis der Redaktion: Dieses Interview haben wir anlässlich des 100. Geburtstag von Fishel Rabinowicz am 9. September 2024 geführt.

Herr Rabinowicz, wie geht es Ihnen?
Abgesehen von den Gebrechen eines 100-Jährigen eigentlich ganz gut!

Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken, was bleibt Ihnen als stärkster Moment in Erinnerung?
Ich stamme aus einer religiösen Familie in Polen. Als die Deutschen 1939 einmarschierten, spürten wir das als Familie sofort am eigenen Leib. 1941 wurde ich als Erster deportiert. Am Ende hatten von unserer insgesamt 35-köpfigen Familie gerade vier Mitglieder überlebt, darunter auch ich. Den Tag der endgültigen Befreiung aus dem KZ Buchenwald im Jahr 1945 werde ich dabei immer besonders vor Augen haben, solange ich noch lebe.

Wie erklären Sie sich und anderen, dass Sie überlebt haben? Kann man das überhaupt?
Eigentlich nicht. In meinem Fall habe ich eine vielleicht banale Erklärung. Als junger Mann hatte ich leuchtend rote Haare. Das fanden nicht wenige der Deutschen in den verschiedenen Lagern speziell; vielleicht haben sie mich deshalb auch besser behandelt als andere, weil es für sie eine Art Unterhaltung war. Da ich damals jung und ziemlich kräftig war, konnte ich auch arbeiten, ich habe Eisenbahnschienen verlegt, später auch Straßen gebaut. Vielleicht hat eine Kombination aus beidem mir das Leben gerettet – Glück war sicherlich auch dabei.

Nach der Befreiung und zwei Jahren als Lungenkranker in Davos haben Sie sich daraufhin in Locarno, also im Tessin, niedergelassen. Sie haben als Chef-Dekorateur in einem Kaufhaus gearbeitet, geheiratet und sind Vater geworden. Ging das alles problemlos?
Sich nach dem, was ich erlebt habe, wieder auf ein normales Leben einzulassen, ist ein schwieriges Unterfangen, aber es ist natürlich auch eine Antwort auf das Ziel der Nationalsozialisten, das jüdische Volk auszurotten. Auch wenn ihnen dies, zumindest was meine Familie betrifft, leider fast gelungen ist.

Nach Ihrer Pensionierung haben Sie sofort begonnen, sich der Kalligrafie, also dem Schönschreiben von Hand, zuzuwenden, und zwar mit hebräischen Buchstaben. Wie kamen Sie dazu?
Ich wollte meine Erlebnisse für die Nachwelt hinterlassen. Ein Buch zu schreiben, wie einer meiner Brüder, der auch überlebt hatte, kam für mich aber nicht infrage. Daraufhin besann ich mich auf mein religiöses Elternhaus und auf die Kenntnisse der hebräischen Sprache, der Kabbala und der jüdischen Zahlenlehre, der Gematria. Schon als Dreijähriger hatte ich damals in Polen Buchstaben aus Gebetbüchern kopiert. Als Pensionierter fiel mir ein, dass ich als Dekorateur Schaufenster mit der sogenannten Papierschneidetechnik gestaltet hatte, und nahm diese wieder auf.

Was ist das Zentrale in Ihrer Kunst?
Ich habe immer wieder gemerkt, dass die simple Darstellung von Gewalt, ganz egal, wie sie gezeigt wird, die Betrachtenden mit der Zeit abstumpft und gleichgültig macht. Ich habe deshalb versucht, das, was Menschen anderen Menschen antun können, mit den 22 hebräischen Buchstaben auszudrücken. Zum Beispiel in meinem Werk »Bild eines Überlebenden«, das sinnbildlich auch für mein Leben steht: Der erste Buchstabe, das Alef, sitzt dort allein am oberen Bildrand und beobachtet, wie die anderen Buchstaben, seine frühere Welt, abgestürzt sind.

Sie schufen später auch ein Bild zu 9/11 in New York. Inzwischen haben Sie die Kalligrafie aus Altersgründen aufgegeben. Wenn Sie noch aktiv wären, hätten Sie ein Werk zum 7. Oktober angefertigt?
Ja, keine Frage, das hätte ich sicher getan.

Mit dem Künstler sprach Peter Bollag.
www.last-swiss-holocaust-survivors.ch

Biografie

Schauspieler Berkel: In der Synagoge sind mir die Tränen geflossen 

Er ging in die Kirche und war Messdiener - erst spät kam sein Interesse für das Judentum, berichtet Schauspieler Christian Berkel

von Leticia Witte  11.07.2025

TV-Tipp

Der Mythos Jeff Bridges: Arte feiert den »Dude«

Der Weg zum Erfolg war für Jeff Bridges steinig - auch weil der Schauspieler sich gegen die Erfordernisse des Business sträubte, wie eine Arte-Doku zeigt. Bis er eine entscheidende Rolle bekam, die alles veränderte

von Manfred Riepe  11.07.2025

Thüringen

Yiddish Summer startet mit Open-Air-Konzert

Vergangenes Jahr nahmen rund 12.000 Menschen an den mehr als 100 Veranstaltungen teil

 11.07.2025

Musik

Nach Eklat: Hamburg, Stuttgart und Köln sagen Bob-Vylan-Auftritte ab

Nach dem Eklat bei einem britischen Festival mit israelfeindlichen und antisemitischen Aussagen sind mehrere geplante Auftritte des Punk-Duos Bob Vylan in Deutschland abgesagt worden

 10.07.2025

Agententhriller

Wie drei Juden James Bond formten

Ohne Harry Saltzman, Richard Maibaum und Lewis Gilbert wäre Agent 007 möglicherweise nie ins Kino gekommen

von Imanuel Marcus  12.07.2025 Aktualisiert

Kulturkolumne

Bilder, die bleiben

Rudi Weissensteins Foto-Archiv: Was die Druckwelle in Tel Aviv nicht zerstören konnte

von Laura Cazés  10.07.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter  10.07.2025

Ethik

Der Weg zum Glück

Nichts ist so flüchtig wie der Zustand großer Zufriedenheit. Doch es gibt Möglichkeiten, ihn trotzdem immer wieder zu erreichen – und Verhaltensweisen, die das Glück geradezu unmöglich machen

von Shimon Lang  10.07.2025

Essay

Das Jewish-Hollywood-Paradox

Viele Stars mit jüdischen Wurzeln fühlen sich unter Druck: Sie distanzieren sich nicht nur von Israel und seiner Regierung, sondern auch von ihrem Judentum. Wie konnte es so weit kommen?

von Jana Talke  10.07.2025