Kunst

»Das Alef sitzt dort allein«

Der Schweizer Schoa-Überlebende Fishel Rabinowicz wird am 9. September 100 Jahre alt

von Peter Bollag  08.09.2024 17:07 Uhr

Fishel Rabinowicz lebt in Locarno. Foto: Gamaraal Foundation

Der Schweizer Schoa-Überlebende Fishel Rabinowicz wird am 9. September 100 Jahre alt

von Peter Bollag  08.09.2024 17:07 Uhr

Herr Rabinowicz, wie geht es Ihnen?
Abgesehen von den Gebrechen eines 100-Jährigen eigentlich ganz gut!

Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken, was bleibt Ihnen als stärkster Moment in Erinnerung?
Ich stamme aus einer religiösen Familie in Polen. Als die Deutschen 1939 einmarschierten, spürten wir das als Familie sofort am eigenen Leib. 1941 wurde ich als Erster deportiert. Am Ende hatten von unserer insgesamt 35-köpfigen Familie gerade vier Mitglieder überlebt, darunter auch ich. Den Tag der endgültigen Befreiung aus dem KZ Buchenwald im Jahr 1945 werde ich dabei immer besonders vor Augen haben, solange ich noch lebe.

Wie erklären Sie sich und anderen, dass Sie überlebt haben? Kann man das überhaupt?
Eigentlich nicht. In meinem Fall habe ich eine vielleicht banale Erklärung. Als junger Mann hatte ich leuchtend rote Haare. Das fanden nicht wenige der Deutschen in den verschiedenen Lagern speziell; vielleicht haben sie mich deshalb auch besser behandelt als andere, weil es für sie eine Art Unterhaltung war. Da ich damals jung und ziemlich kräftig war, konnte ich auch arbeiten, ich habe Eisenbahnschienen verlegt, später auch Straßen gebaut. Vielleicht hat eine Kombination aus beidem mir das Leben gerettet – Glück war sicherlich auch dabei.

Nach der Befreiung und zwei Jahren als Lungenkranker in Davos haben Sie sich daraufhin in Locarno, also im Tessin, niedergelassen. Sie haben als Chef-Dekorateur in einem Kaufhaus gearbeitet, geheiratet und sind Vater geworden. Ging das alles problemlos?
Sich nach dem, was ich erlebt habe, wieder auf ein normales Leben einzulassen, ist ein schwieriges Unterfangen, aber es ist natürlich auch eine Antwort auf das Ziel der Nationalsozialisten, das jüdische Volk auszurotten. Auch wenn ihnen dies, zumindest was meine Familie betrifft, leider fast gelungen ist.

Nach Ihrer Pensionierung haben Sie sofort begonnen, sich der Kalligrafie, also dem Schönschreiben von Hand, zuzuwenden, und zwar mit hebräischen Buchstaben. Wie kamen Sie dazu?
Ich wollte meine Erlebnisse für die Nachwelt hinterlassen. Ein Buch zu schreiben, wie einer meiner Brüder, der auch überlebt hatte, kam für mich aber nicht infrage. Daraufhin besann ich mich auf mein religiöses Elternhaus und auf die Kenntnisse der hebräischen Sprache, der Kabbala und der jüdischen Zahlenlehre, der Gematria. Schon als Dreijähriger hatte ich damals in Polen Buchstaben aus Gebetbüchern kopiert. Als Pensionierter fiel mir ein, dass ich als Dekorateur Schaufenster mit der sogenannten Papierschneidetechnik gestaltet hatte, und nahm diese wieder auf.

Was ist das Zentrale in Ihrer Kunst?
Ich habe immer wieder gemerkt, dass die simple Darstellung von Gewalt, ganz egal, wie sie gezeigt wird, die Betrachtenden mit der Zeit abstumpft und gleichgültig macht. Ich habe deshalb versucht, das, was Menschen anderen Menschen antun können, mit den 22 hebräischen Buchstaben auszudrücken. Zum Beispiel in meinem Werk »Bild eines Überlebenden«, das sinnbildlich auch für mein Leben steht: Der erste Buchstabe, das Alef, sitzt dort allein am oberen Bildrand und beobachtet, wie die anderen Buchstaben, seine frühere Welt, abgestürzt sind.

Sie schufen später auch ein Bild zu 9/11 in New York. Inzwischen haben Sie die Kalligrafie aus Altersgründen aufgegeben. Wenn Sie noch aktiv wären, hätten Sie ein Werk zum 7. Oktober angefertigt?
Ja, keine Frage, das hätte ich sicher getan.

Mit dem Künstler sprach Peter Bollag.
www.last-swiss-holocaust-survivors.ch

Aufgegabelt

Gemüsesuppe mit Kichererbsen

Rezepte und Leckeres

 12.10.2024

Geschichte

Derrick, der Kommissar von der Waffen-SS

Horst Tappert wurde in der Bundesrepublik als TV-Inspektor Derrick gefeiert - bis ein erhebliches Problem in seinem Lebenslauf bekannt wird

von Thomas Gehringer  11.10.2024

Analyse

Die neuen alten Grenzen der Solidarität

Erstaunt über den aktuellen Judenhass? Lesen Sie doch mal Jean Amérys 60 Jahre alte Texte

von Leeor Engländer  11.10.2024

Sachbuch

Deutschland und Israel nach dem 7. Oktober

Was ist mit den gemäßigten und liberalen Israelis seit dem 7. Oktober? Fania Oz-Salzberger geht dem in ihrem neuen Buch nach. Und streift dabei durch die Geschichte Israels bis hin zum Hamas-Überfall vor einem Jahr

von Leticia Witte  11.10.2024

Medien

Künftig weniger Folgen von »Hart aber fair«

Bei der Talkshow kehrt weiterhin keine Ruhe ein. Die ARD will die Sendung seltener ausstrahlen. Gastgeber Louis Klamroth soll stattdessen neue Formate für die Mediathek entwickeln

von Christof Bock  10.10.2024

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter  10.10.2024

Berlin

Neues Schiedsgericht soll Verfahren für Rückgabe von Nazi-Raubgut verbessern

Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände haben sich auf eine neue Instanz im Verfahren zur Rückgabe von NS-Raubgut geeinigt. Zentral ist dabei die »einseitige Anrufbarkeit«. Was steckt dahinter?

von Ann-Marie Utz  10.10.2024

Porträt

Nobelpreis für Literatur: Dieser jüdische Schriftsteller gilt als großer Favorit

Eine Prognose von Maria Ossowski

von Maria Ossowski  10.10.2024 Aktualisiert

Kolumne

Sicherheit, was für ein absurdes Konzept!

Warum ich in diesen »schrecklichen Tagen« zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur an Anemonen denke

von Laura Cazés  09.10.2024