75. Geburtstag

Comics gegen den »Holocaust-Kitsch«

Wer Kritiker hat, muss sich um Aufmerksamkeit nicht sorgen. Die alte Medien-Weisheit erschloss Art Spiegelman Anfang 2022, Jahrzehnte nach seinem Welterfolg mit dem Comic »Maus«, eine ganz neue Leserschaft.

Dazu verhalfen dem streitbaren Autoren rechte Kulturkämpfer im US-Bundesstaat Tennessee. Ein Schulausschuss im provinziellen McMinn County hatte Spiegelmans »Maus« auf den Index gesetzt - wegen profaner Sprache und Nacktdarstellungen. Dies sei unzumutbar für Kinder, so die Begründung.

Die Zensoren erzeugten einen Bumerang-Effekt. Der Holocaust-Comic erklomm weltweit einmal mehr die Bestsellerlisten. »Maus« zählte schon zuvor zu den Standardwerken der Holocaust-Aufarbeitung - wenn auch als Sonderling. Spiegelman erhielt 1992 für seine Arbeit den Pulitzer-Preis. Zum ersten Mal sprach die Jury damit einem Comic-Autor die renommierte Auszeichnung zu; ein Denkmal in der Geschichte der Graphic Novel, die »Maus« zu einem Klassiker des Genres machte.

»Maus« ist ein Tabubruch. Zwischen 1980 und 1991 erschien der Comic als Serie und später als Buch in zwei Bänden. Die Geschichte erzählt von den Erfahrungen von Spiegelmans Vater Vladek, der als polnischer Jude den Holocaust überlebte. In langen Gesprächen hatte er ihn seine Geschichte erzählen lassen und dabei in den 70er-Jahren aufgezeichnet - anfangs, ohne dass der Vater es wusste.

Spiegelmans Umgang mit dem Thema hatte so niemand vorher gewagt. Er wählte Tiere in seinen Cartoons, um die verschiedenen Gruppen darzustellen. Juden kamen als Mäuse daher, Deutsche als jagende Katzen. Er wählte die Fabel als Stilmittel und sah sich bei seinen Kritikern dem Vorwurf des »Otherings« ausgesetzt, wie er kürzlich der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ) sagte. Der Begriff steht für die Distanzierung zu anderen Gruppen, um die eigene zu bestätigen. »Das macht es dann einfach, gegen einen ungeliebten Comic vorzugehen«, so der Comic-Autor kurz vor seinem 75. Geburtstag.

Spiegelman, 1948 in Schweden geboren, wanderte als Kind zusammen mit seinen Eltern in die USA aus. Schon mit sieben Jahren begeisterte er sich für die Kult-Comics »Mad«, später entdeckte er die »Entertaining Comics«, die er nachzeichnete. In den 60er und 70er Jahren gehörte er zur aufstrebenden Untergrund-Comic-Szene New Yorks. Erotik-Zeitschriften druckten ihn, darunter »Cavalier«, »Gent« und der »Playboy«. Später entwarf er mehrere Kult-Cartoons für den »New Yorker«.

»Maus« avancierte zum Bestseller weltweit. Sein Markenzeichen: die Erkundung des komplexen Themas des Holocausts, die jüdische Identität und die Erfahrung der Einwanderung. Für Schlagzeilen sorgte er auch später. Nach dem Konflikt zwischen Schwarzen und orthodoxen Juden im Stadtteil Crown Heights in Brooklyn Anfang der 90er Jahre veröffentlichte der »New Yorker« Spiegelmans Cartoon eines orthodoxen chassidischen Mannes in inniger Kussumarmung mit einer schwarzen Frau; was selbst in liberalen Kreisen für Kopfschütteln sorgte.

Nicht mehr zumutbar für das amerikanische Publikum war der Versuch, seinen Comic-Band »In the Shadow of No Towers« in den USA zu publizieren. Darin sieht er nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center eine größere Gefahr durch die USA als durch islamistische Terroristen. Die Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit« sprang ein und veröffentlichte den Band.

Auch über sein Hauptwerk »Maus« wird nicht erst seit der Zensur von Tennessee gestritten. Einige Kritiker äußerten Bedenken, es sei die falsche Art, die Geschichte des Holocausts als Comic darzustellen. Andere werfen ihm vor, er verharmlose das Trauma der Juden-Vernichtung. Tatsächlich versuchte Spiegelman, über die Verfremdung die emotionale Last zu dämpfen, die mit der Darstellung des traumatisierenden Themas einhergeht.

In den vergangenen Jahren hat Spiegelman weniger zum Zeichenstift gegriffen, dafür häufiger die PC-Tastatur bedient. Ein Entwurf für eine Serie für Amazon wartet noch auf grünes Licht. Jetzt will er wieder zu seinem Kerngeschäft, dem Comic, zurückkehren, kündigte er an. Er habe, gibt er zu, »eine Scheißangst davor«, damit wieder anzufangen. »Aber dieses Jahr soll den Comics gehören.«

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  14.11.2025

Kunst

Illustrationen und Israel-Hass

Wie sich Rama Duwaji, die zukünftige »First Lady von New York«, auf Social Media positioniert

von Jana Talke  13.11.2025

Kino

Zwischen »Oceans Eleven« und Houdini-Inszenierung

»Die Unfassbaren 3« von Ruben Fleischer ist eine rasante wie präzise choreografierte filmische Zaubershow

von Chris Schinke  13.11.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 13.11.2025

Film

Dekadenz, Krieg und Wahnsinn

»Yes« von Nadav Lapid ist provokativ und einseitig, enthält aber auch eine tiefere Wahrheit über Israel nach dem 7. Oktober

von Sascha Westphal  13.11.2025

Kolumne

Hineni!

Unsere Autorin trennt sich von alten Dingen und bereitet sich auf den Winter vor

von Laura Cazés  13.11.2025

Zahl der Woche

-430,5 Meter

Fun Facts und Wissenswertes

 12.11.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 13. November bis zum 20. November

 12.11.2025

Interview

»Niemand hat Jason Stanley von der Bühne gejagt«

Benjamin Graumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, weist die Vorwürfe des amerikanischen Philosophen zurück und beschuldigt ihn, Unwahrheiten über den Abend in der Synagoge zu verbreiten

von Michael Thaidigsmann  12.11.2025