Vermächtnis

Chronistin ihrer Zeit

Verweigerte sich bis zuletzt dem aufoktroyierten Opfer-Status: Etty Hillesum (1914–1943) Foto: IMAGO/piemags

Vermächtnis

Chronistin ihrer Zeit

Die Schriften der 1943 in Auschwitz ermordeten Niederländerin Etty Hillesum sind ein Jahrhundertbuch

von Marko Martin  13.11.2023 17:08 Uhr

Elf eng beschriebene Hefte und zahlreiche Briefe sind das Vermächtnis von Etty Hillesum. Die 1914 geborene holländische Jüdin, eine weltneugierige Philosophie- und Slawistik-Studentin (ihre russische Mutter war einst vor den zaristischen Pogromen in die Niederlande geflohen), hatte diese Aufzeichnungen im März 1941 in Amsterdam und Deventer begonnen.

Im Unterschied zu ihr und ihrer Familie, die dann im Herbst 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden, konnten diese Papiere gerettet werden.

anteilnahme Bereits in den 80er-Jahren waren sie unter großer öffentlicher Anteilnahme in den Niederlanden veröffentlicht worden, auch gab es Publikationen in anderen Sprachen, doch ist nun erst jetzt – in einer skrupulös übersetzten und kommentierten Ausgabe – dieses knapp 1000 Seiten umfassende Jahrhundertbuch auf Deutsch erhältlich.

Und nicht etwa einem der zahllosen, inzwischen fast inflationären Projekte zum Gedenken an Anne Frank ist diese Entdeckung zu verdanken, sondern dem Schweizer Herausgeber Pierre Bühler sowie diversen Schweizerischen Stiftungen, die die Drucklegung dieses Buches finanziell möglich gemacht hatten – mehr als ein Detail, das womöglich auch etwas aussagt über die Routine deutscher »Erinnerungsarbeit«.

Wovon aber berichtet die junge Frau? Von nichts Geringerem als von den ethischen Konsequenzen einer intellektuellen Introspektion und einer spirituellen Sinnsuche und somit quasi von den »letzten Dingen und großen Fragen«.

Die Aufzeichnungen sind visionär ohne Hybris, ermutigend ohne billigen Trost.

Dazu ungezählte, in kristalliner Sprache geschriebene Alltagsbeobachtungen über das bedrohte Leben unter deutscher Besatzung, Notate voll illusionsloser Selbstbetrachtung und Humanität, jedoch nie selbstgerecht und steif, sondern auch voller Humor und Souveränität. »Du musst das Konkrete, das Irdische beschreiben und das so mit deinen Worten durchleuchten, mit deinem Geist, dass die Seele dahinter erweckt wird. Wenn du dich direkt auf die sogenannte Seele stürzt, dann wird alles zu vage, zu formlos.«

selbstbehauptungen Vita contemplativa und vita activa, aber es sind keine akademischen Exerzitien, sondern existenzielle Selbstbehauptungen von Körper und Geist, die dabei nicht nur vom Menschen zu wissen begehren, sondern auch nach Gott suchen.

Wobei die Physis bei Etty Hillesum – und deshalb sind die gängigen Vergleiche ihres Lebens und Denkens mit denjenigen Edith Steins und Simone Weils etwas ungenau – keineswegs nur das Gefäß für mystische Aufschwünge ist, sondern stattdessen tatsächlich dies: der Körper einer selbstbewussten jungen Frau, der sich etwa einem charismatisch-ambivalenten »Psycho-Chirologen« und C.-G.-Jung-Schüler ebenso verweigert wie schließlich hingibt wie er auch anderen Männern durchaus selbstbewusst begegnet. »Es war nur der Schrei des Fleisches, und der Mann ist dann wirklich nur das Instrument.«

Im Durchgangslager Westerbork arbeitete sie als Sozialarbeiterin des »Judenrats«.


Weit davon entfernt, eine »weinerliche Theosophin« zu werden, liest Etty Hillesum Rilke und die Bibel, versucht, so oft als möglich Sport zu treiben, und fällt sich in ihren Aufzeichnungen so burschikos wie sensibel immer wieder selbst ins Wort, falls diese ihr zu sentenziös und verallgemeinernd erscheinen.

»Du musst wirklich nicht immer gleich stark inspiriert sein, ergib dich ruhig einmal der Müdigkeit. Ich glaube nicht an objektive Feststellungen. Unendliches Zusammenspiel menschlicher Wechselwirkungen.« Wie viel Herzenskluges (nicht: Altkluges!) ließe sich aus diesem Tagebuch zitieren, nach dessen Lektüre so manch hochgelobte Diaristen von Thomas Mann über Christa Wolf bis Peter Handke dann doch ziemlich schal und prätentiös klingen.

Hier nämlich schreibt jemand um sein Leben, verweigert sich bis zuletzt dem aufoktroyierten Opfer-Status und bewahrt ein Gefühl für die eigenen Ambivalenzen und Widersprüche – als Beweis dafür, noch immer Mensch zu sein.

TROST Und Gott? Kann in Etty Hillesums Interpretation vielleicht längst keinen Trost mehr spenden, sondern muss nun selbst getröstet werden, in den Herzen und Seelen der Menschen, die ihn einst erfunden hatten, um Ethik und Moral transzendental werden zu lassen.

Im Juli 1942 nimmt Etty Hillesum dann auf eigenen Wunsch eine Sozialarbeit im berüchtigten Durchgangslager Westerbork auf, um den von deutschen Besatzern und holländischen Kollaborateuren Zusammengetriebenen so gut als möglich beizustehen.

»Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden sein«, schreibt sie in ihrer letzten Tagebuchnotiz.

Wie bereits zuvor arbeitet die damals 28-Jährige in einer Abteilung des »Judenrats«, dessen zwangsweise Verquickung mit dem NS-Deportationssystem sie äußerst kritisch sieht, für sich selbst trotz vorhandener Möglichkeiten ein Untertauchen jedoch ausschließt. Sie will die Männer, Frauen und Kinder, die Jungen und die Alten, über deren Schicksal sie sich keine Illusionen macht, ebenso wenig alleinlassen wie ihre Eltern und ihren Bruder, die dann ebenfalls in Westerbork eingepfercht werden: »Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden sein.«

GESICHTER Das schreibt Etty Hillesum in ihrer letzten Tagebuchnotiz. Und kurz zuvor über ihre bisherige Entwicklung: »Ich habe früher einmal in eines meiner Tagebücher geschrieben: Ich möchte mit meinen Fingerspitzen die Konturen der Zeit abtasten (…). Und dann wurde ich plötzlich in einen Brennpunkt menschlichen Leidens geschleudert, an eine der vielen kleinen Fronten, die es in Europa gibt. Und dort erlebte ich dies: Aus den Gesichtern der Menschen, aus Tausenden Gesten, kleinen Äußerungen und Lebensgeschichten, begann ich diese Zeit – und noch viel mehr als nur diese Zeit – herauszulesen. Weil ich gelernt hatte, in mir selbst zu lesen, bemerkte ich, dass ich auch in anderen lesen konnte.«

Kurz vor seiner Ermordung 1941 im Ghetto von Riga hatte der 81-jährige Historiker Simon Dubnow noch »Juden, schreibt auf!« gerufen, ein Schrei nach Zeugenschaft. Mit Etty Hillesums Tagebüchern und Briefen ist nun eine Chronistin zu entdecken, deren Mut, Klarheit und – ja, auch das – Ironie und Charme durch die Zeiten leuchten: visionär ohne Hybris, ermutigend ohne billigen Trost. Noch einmal: Was für ein Buch!

Etty Hillesum: »Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe 1941–1943«. Herausgegeben von Klaas A. D. Smelik und Pierre Bühler. C.H. Beck, München 2023, 989 S., 42 €

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