Musik

Buch der Brüche

Rekurriert auf synagogale Musik: Sarah Nemtsov Foto: Amelie Losier

Musik

Buch der Brüche

Sarah Nemtsovs Oper »L’Absence« wird in München uraufgeführt

von Katrin Diehl  30.04.2012 15:49 Uhr

Sarah Nemtsov kann einerseits verstehen, wenn man sie eine »jüdische Komponistin« nennt. In eine Schublade möchte sie dennoch nicht gesteckt werden. Zwar habe sie sich in einigen Kompositionen mit jüdischen »Themen und diesem Teil meiner eigenen Identität auseinandergesetzt«, wie man sie vor einiger Zeit in einer Radiosendung über »Jüdische Positionen in der Neuen Musik« sagen hörte, ihre Musiksprache sei aber »an und für sich Avantgarde, zeitgenössisch, abendländisch«.

celan Nemtsov, 1980 in Oldenburg geboren, gehört zu der überschaubaren Gruppe junger Komponisten, die in der Avantgardeszene nicht nur national, sondern auch international auf sich aufmerksam gemacht haben. 1998 begann sie ihr Studium der Komposition an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover, dazu kam das Instrumentalstudium im Fach Oboe. 2005 wurde sie Meisterschülerin für Komposition an der Universität der Künste in Berlin.

Sie erhielt Stipendien und Preise, ihre Werke werden von namhaften Ensembles auf renommierten Festivals gespielt. 2006 wurde ihre Kammeroper Herzland in Hannover uraufgeführt. Dem Werk liegt der Briefwechsel zwischen Paul Celan und seiner Frau Gisèle Lestrange zugrunde. Kompositorisch griff Nemtsov bei der Vertonung der Liebesbeziehung, die an den inneren Konflikten Celans zerbrach, »zurück auf traditionelle jüdische Musik«. Die rezitative Form, in der in der Synagoge in einer Art Sprechgesang aus der Tora gelesen wird, habe sie dazu inspiriert.

jabès Auch Sarah Nemtsovs neuestes Werk, das bei der 13. Münchener Biennale, einem internationalen Festival für neues Musiktheater, am 3. Mai uraufgeführt wird, beruht auf der literarischen Vorlage eines jüdischen Autors. L’Absence, eine Oper in fünf Akten, mit zwölf Sängern, einem Sprecher, einer Tänzerin und Orchester, lehnt sich an Edmond Jabès‘ Buch der Fragen aus dem Jahr 1963 an. Nemtsovs assoziative, brüchige Tonsprache erfasst Jabès’ Texte, lässt seine Art zu schreiben mitklingen und seine biografischen Erfahrungen durchscheinen. 1912 in Kairo geboren, war Jabès 1957 nach dem Suezkrieg und der darauf folgenden antisemitischen Welle in Ägypten nach Paris gegangen.

Dort warteten die Surrealisten auf ihn, zu denen sich Jabès aber nie zählen wollte. Seine poetischen Assoziationen, kaleidoskopisch zersplittert, nannte er »récit éclaté«. Die Zerbrochenheit dieser Texte bildet eine irreparable, unheilbare Realität ab. Die von Yukel und Sarah zum Beispiel, den beiden Liebenden und Überlebenden aus dem Buch der Fragen. In die Fragmentcollage, die in ihrer Struktur an Talmud-Traktate erinnert, streute Jabès Diskussionen rabbinischer Gelehrter ein, die wie der Chor des antiken Theaters das Geschehen begleiten und in ihrer Weisheit wie Widersprüchlichkeit rätselhaft und tief erscheinen.

tora Nach seiner Emigration hatte Jabès begonnen, sich mit dem Talmud, der Kabbala und Torakommentaren zu beschäftigen, ein Versuch, sich wieder eine Heimat zu geben. Dieses Gewitter von Eindrücken tiefster Bedeutung ging nieder im Buch der Fragen, das auch um das ewige Thema kreist: Was ist sagbar, was unsagbar nach der Schoa? An einigen Stellen schafft der Text eine Verbindung zu jüdischer Musik und deren berührender Kraft.

»Yukel, sprich uns vom Schweigen, das Ende und Anfang ist, weil es die Seele der Wörter ist, wie der Kantor und der Märtyrer im bestimmten Augenblick die Seele der Welt sind.« Yukel, wenn er noch lebt, nimmt sich das Leben, Sarah, wenn sie noch lebt, endet im Wahnsinn. Edmond Jabès ist 1991, sagt man, mit einem Buch in der Hand, in Paris gestorben.

Mit ihrer Oper versucht Sarah Nemtsov Jabès’ Worten mit Tönen zu folgen. Gut möglich, dass man in ihr deshalb vor allem wieder die »jüdische Komponistin« sehen wird. Viel wichtiger aber ist die Frage, wo Hoffnung durchscheint in einem tieftraurigen Buch und wie man sie hörbar macht.

»L’Absence«. Oper von Sarah Nemtsov. Regie: Jasmin Solfaghari, Muffathalle München, 3., 4. und 6. Mai, jeweils 20 Uhr

www.muenchener-biennale.de

Komponistengespräch mit Sarah Nemtsov, Donnerstag, 3. Mai, 18.30 Uhr, Gasteig München
www.gasteig.de

Meinung

Gratulation!

Warum die Ehrung der ARD-Israelkorrespondentin Sophie von der Tann mit dem renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis nicht nur grundfalsch, sondern auch aberwitzig ist

von Lorenz Beckhardt  01.12.2025 Aktualisiert

Kommentar

Schiedsgerichte sind nur ein erster Schritt

Am 1. Dezember startet die Schiedsgerichtsbarkeit NS-Raubkunst. Doch es braucht eine gesetzliche Regelung auch für Werke in Privatbesitz, meint unser Gastautor

von Rüdiger Mahlo  01.12.2025

Rache

»Trigger-Thema« für Juden

Ein Filmseminar der Jüdischen Akademie untersuchte das Thema Vergeltung als kulturelle Inszenierung

von Raquel Erdtmann  01.12.2025

Wuppertal

Schmidt-Rottluff-Gemälde bleibt in Von der Heydt-Museum

»Zwei Frauen (Frauen im Grünen)« von Karl Schmidt-Rottluff kann im Von der Heydt Museum in Wuppertal bleiben. Nach Rückgabe an die Erbin erwarb die Stadt das Bild von ihr. Vorausgegangen waren intensive Recherchen zur Herkunft

 01.12.2025

Dorset

»Shakespeare In Love« - Dramatiker Tom Stoppard gestorben

Der jüdische Oscar-Preisträger war ein Meister der intellektuellen Komödie. Er wurde 88 Jahre alt

von Patricia Bartos  01.12.2025

Fernsehen

Abschied von »Alfons«

Orange Trainingsjacke, Püschelmikro und Deutsch mit französischem Akzent: Der Kabarettist Alfons hat am 16. Dezember seine letzte Sendung beim Saarländischen Rundfunk

 30.11.2025 Aktualisiert

Gerechtigkeit

Jüdische Verbände dringen auf Rückgabegesetz 

Jüdische Verbände dringen auf Rückgabegesetz Jahrzehnte nach Ende des NS-Regimes hoffen Erben der Opfer immer noch auf Rückgabe von damals geraubten Kunstwerken. Zum 1. Dezember starten Schiedsgerichte. Aber ein angekündigter Schritt fehlt noch

von Verena Schmitt-Roschmann  30.11.2025

Berlin

Späte Gerechtigkeit? Neue Schiedsgerichte zur NS-Raubkunst

Jahrzehnte nach Ende der Nazi-Zeit kämpfen Erben jüdischer Opfer immer noch um die Rückgabe geraubter Kunstwerke. Ab dem 1. Dezember soll es leichter werden, die Streitfälle zu klären. Funktioniert das?

von Cordula Dieckmann, Dorothea Hülsmeier, Verena Schmitt-Roschmann  29.11.2025

Interview

»Es ist sehr viel Zeit verloren gegangen«

Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, zieht eine Bilanz seiner Arbeit an der Spitze der »Beratenden Kommission NS-Raubgut«, die jetzt abgewickelt und durch Schiedsgerichte ersetzt wird

von Michael Thaidigsmann  29.11.2025