Bioethik

Bibel und Bürgerrechte

Als Bioethiker möchte Leon Richard Kass ungern bezeichnet werden – obwohl er engagiert wie kaum ein anderer Wissenschaftler gegen Klonen und Euthanasie argumentiert. Er sei viel eher »ein altmodischer Humanist«, sagt er gern.

Der 1939 in Chicago geborene Kass beschreibt seine aus Osteuropa stammende Familie rückblickend als »Jiddisch sprechende, säkulare Sozialisten«. Nicht das Judentum, sondern Moral habe bei seiner Erziehung im Vordergrund gestanden, erinnert er sich, »Moral mit einem Schuss Sozialismus, nicht auf der Basis der marxistischen Theorie, sondern bestehend aus sozialer Gerechtigkeit und Menschenwürde«.

Bereits mit 15 Jahren begann Kass sein Studium an der Universität von Chicago, wo er 1958 seinen Abschluss in Biologie ablegte – und gleich Medizin weiterstudierte, bis er schließlich 1967 den Doktor der Biochemie in Harvard machte. Mit seiner Frau Amy Apfel, die er 1961 geheiratet hatte, ging er 1965 ins Holmes County in Mississippi, um sich für Bürgerrechte zu engagieren. Damals unterstützten vor allem weiße Studenten die Schwarzen aus den Südstaaten in ihrem Kampf um Gleichberechtigung, indem sie ihnen etwa als Freiwillige dabei halfen, sich als Wähler zu registrieren.

Rassismus Holmes County war eine besonders arme Gegend, in der nicht nur der Ku-Klux-Klan die schwarze Bevölkerungsmehrheit terrorisierte. 1963 war etwa Alfred Brown, ein psychisch kranker Veteran des Zweiten Weltkriegs und Vater von fünf Kindern, auf offener Straße von Polizisten erschossen worden, nachdem sie ihn so lange provoziert hatten, bis er schließlich ein kleines Taschenmesser gezogen hatte. Aber auch die weißen Unterstützer der Bürgerrechtsbewegung lebten in den Südstaaten gefährlich, immer wieder kam es zu Übergriffen – 1964 waren unter anderem zwei jüdische Aktivisten, Andrew Goodman und Michael Schwerner, zusammen mit dem jungen Schwarzen James Chaney von Klan-Mitgliedern und einigen Polizisten in der Nähe von Philadelphia, Mississippi, gemeinschaftlich ermordet worden.

Ein Jahr später, als Kass und seine Frau in den Süden gingen, galt der Kampf den schikanösen Bestimmungen, mit denen Schwarze am Wählen gehindert werden sollten – unter anderem wurden spezielle Steuern für die Registrierung erhoben, Schreib- und Lesetests verlangt sowie andere, vollkommen willkürliche und zutiefst demütigende Prüfungen veranstaltet.

Werte Die Zeit als Bürgerrechtler und der Kontrast zwischen seinen Kollegen in Harvard und den armen und ungebildeten Afroamerikanern vom Lande, mit denen er zusammenlebte und -arbeitete, prägten Kass. So sagte er später, dass diese Erfahrung seine Hinwendung zum Judentum weckte. »Ich wurde vom Glauben erleuchtet und begann eine Reise, in der jüdische Gedanken eine immer wichtigere Rolle spielten.« Ihm habe imponiert, dass bei den regelmäßig zur Kirche gehenden Landarbeitern Werte eine viel größere Rolle spielten als bei seinen privilegierten Mitabsolventen in Harvard, »deren progressive Meinungen ich natürlich teilte, deren Selbstbezogenheit mich jedoch abstieß.«

Nach seiner Promotion arbeitete Kass an den zum US-Gesundheitsministerium gehörenden National Institutes of Health im Bereich Molekularbiologie. Damals stieß er auf einen Artikel des Genetikers Joshua Lederberg, in dem es darum ging, dass eines Tages Menschen geklont werden könnten. Kass, dessen Interesse an der Bioethik durch die Bücher Abschaffung des Menschen von C.S. Lewis und Schöne neue Welt von Aldous Huxley geweckt worden war, schrieb als Antwort eine moralische Anklage gegen das Klonen von Menschen. »Die programmierte Reproduktion des Menschen wird ihn dehumanisieren«, so Kass.

Diese Worte leiteten den Beginn seiner weiteren Karriere ein. Kass fing an, über Bioethik zu schreiben. Seine Themen umfassten bald Organtransplantation, genetisches Screening, künstliche Befruchtung, Alterungsbekämpfung, Beihilfe zum Selbstmord, Medizinethik und immer wieder das Klonen. 1970 wurde Kass als Executive Director zum National Research Council berufen, dem Nationalen Forschungsrat der USA, der die ersten öffentlichen Dokumente zur ethischen und sozialen Einschätzung der Fortschritte in der Biotechnologie veröffentlichte.

Ab 1972 lehrte Kass dann an verschiedenen Universitäten Bioethik und begründete an der Universität Chicago im Jahr 1977 das Kernfach »Human Being and Citizen« (»Mensch und Bürger«), das heute eines der beliebtesten geisteswissenschaftlichen Fächer in Chicago ist.

Stammzellen Als in den späten 90er-Jahren die Debatte über Stammzellforschung immer intensiver wurde, gründete Präsident George W. Bush das »President’s Council on Bioethics«, also einen präsidialen Beirat für Bioethik, dessen Vorsitz Kass von 2001 bis 2005 innehatte. Gerade in den ersten Jahren der heftig geführten Diskussion war er in den US-Medien sehr präsent, geriet jedoch bald in die Kritik, weil ihm vorgeworfen wurde, den Rat vor allem mit Philosophen und Wissenschaftlern zu besetzen, die von vornherein eher gegen die Forschung an Stammzellen eingestellt waren.

Dass Kass zwei Kloning-Befürworter, die Genetikerin Elizabeth Blackburn und den Ethiker William May, aus dem Council warf und durch Gegner des Klonens ersetzte, machte die Sache nicht besser – auch wenn er darauf hinwies, dass im Gegensatz zu früheren Councils auch Abtreibungsgegner unter den Mitgliedern waren, man also viel mehr unterschiedliche Meinungen versammelt habe. Eine Gesellschaft, die das Klonen befürworte, schrieb Kass seinerzeit, »habe vergessen, wie man schaudert« und sehe Kinder als »pure Willensprojekte«.

In den letzten Jahren wandte sich der Wissenschaftler mehr und mehr anderen Themengebieten als der Bioethik zu. Er lehrte und forschte vor allem über das Buch Genesis. Die Bibel insgesamt nannte er dabei ein Werk, das mit den anthropologischen und ethischen Erkenntnissen der großen Dichter und Philosophen mithalten könne und dessen »Lehren über Aufrichtigkeit, Menschlichkeit, menschliche Würde« beispielhaft seien.

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