Buch

Berliner Luft

Jiddisch ist eine Sprache voller Poesie. Ein Wort, das man auf Anhieb versteht, lautet »luftmentsch«. Damit ist jemand gemeint, der auf der untersten Sprosse der sozialen Hierarchie steht. Auf der untersten sozialen Stufe im Schtetl Osteuropas standen die ungelernten Arbeiter, Tagelöhner, Wasserträger, Transporteure, das Heer der Schnorrer, die buchstäblich von der Hand in den Mund lebten, fromme und aufdringliche Illusionäre, deren Hoffnung auf Ertrag sich in Luft auflöste. Diese Juden lebten, wie es Manès Sperber nannte, im Bereich des »als ob«.

Die meisten Ostjuden, die ab 1880 die deutsche Grenze überschritten, betrachteten Deutschland als Durchgangsland, als »Brücke zu weiter nach Westen liegenden Zielen« (Eduard Bernstein). Doch das Leben schlägt manchmal Volten, und so wurde Berlin, wie Anne-Christin Saß in ihrem Buch Berliner Luftmenschen treffend bemerkt, zu einem »Ort der gestoppten Durchwanderung«.

Von den deutschen Juden hoben sich die Ostjuden vor allem in ihrer beruflichen und sozialen Schichtung ab, kurz: Sie fielen als Juden auf. Für die Westjuden verkörperten die Ostjuden das, wovon man sich entfernen und woran man nicht erinnert werden wollte – an die jüdische »Vergangenheit«.

Unter den Ostjuden gab es Personen, die in den Gemeinden benötigt wurden: Rabbiner, Lehrer, Schächter, Kantoren, Toraschreiber – Menschen, für die Joseph Roth den Begriff »konfessionelle Proletarier« fand. 1925 lebten 41.465 osteuropäische Juden in Berlin, das entsprach 20 Prozent der gesamtjüdischen Bevölkerung der Stadt. Klara Eschelbacher beschrieb das Milieu so: »Berlin hat ... im Scheunenviertel sein typisches Ghetto. ... Die ostjüdische Hauptstraße hier, die Grenadiergass, bildet ein Städtchen für sich, mit ihren Leiden, Freuden und Hoffnungen, mit ihrer eigenen Sprache, Sitten und Gebräuchen, und steht in keinem Zusammenhang mit dem großen brausenden Berlin.«

Knotenpunkt Doch waren die Juden des Scheunenviertels arme Menschen, die »von Luft« lebten? Dagegen spricht ein flächendeckendes Netz von allen möglichen Vereinen, die vielfältige Hilfe leisteten und in Not geratene Juden unterstützen. Mitte der 20er-Jahre, ermittelte Saß, gab es in Berlin-Mitte 64 osteuropäisch-jüdische Organisationen, Betschtibel und Kulturvereine eingeschlossen.

Dennoch schlug sich der Berliner luftmentsch mehr schlecht als recht durchs Leben, träumte zwar, reich wie Rothschild zu sein, war sich aber bewusst, dass wichtiger als alles Geld die Familie war, die Gelehrsamkeit, die Identifikation mit der religiösen Tradition. Und er wusste auch, dass, seiner unsicheren Rechtsstellung wegen, das Damoklesschwert der Ausweisung ständig über ihn schwebte, auch wenn er im republikanischen Deutschland mehr oder weniger geduldet war. Razzien der Polizei gegen die ostjüdische Bevölkerung waren nicht selten, und 1923 kam es zu pogromartigen Ausschreitungen im Scheunenviertel.

Saß’ Studie zeigt anschaulich, dass sich Berlin in den 20er-Jahren zum Knotenpunkt einer vielschichtigen jüdischen Diasporakultur entwickelte. In den hier stattfindenden Begegnungen mit der deutsch-jüdischen »community« sowie der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft, so ihr Resümee, bündelten sich die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklungen des sich neu formierenden Nachkriegseuropas, auf die die Migranten ihre ganz eigenen Antworten gaben.

Anne-Christin Saß: »Berliner Luftmenschen. Osteuropäisch-jüdische Migranten in der Weimarer Republik«. Wallstein, Göttingen 2012, 493 S., 44,90 €

Hollywood

Ist Timothée Chalamet der neue Leonardo DiCaprio?

Er gilt aktuell als einer der gefragtesten Schauspieler. Seine Karriere weckt Erinnerungen an den Durchbruch des berühmten Hollywood-Stars - der ihm einen wegweisenden Rat mitgab

von Sabrina Szameitat  22.12.2025

Didaktik

Etwas weniger einseitig

Das Israel-Bild in deutschen Schulbüchern hat sich seit 2015 leicht verbessert. Doch der 7. Oktober bringt neue Herausforderungen

von Geneviève Hesse  22.12.2025

Meinung

Der Missbrauch von Anne Frank und die Liebe zu toten Juden

In einem Potsdamer Museum stellt der Maler Costantino Ciervo das jüdische Mädchen mit einer Kufiya dar. So wird aus einem Schoa-Opfer eine universelle Mahnfigur, die vor allem eines leisten soll: die moralische Anklage Israels

von Daniel Neumann  21.12.2025

Film

Spannend, sinnlich, anspruchsvoll: »Der Medicus 2«

Nach zwölf Jahren kommt nun die Fortsetzung des Weltbestsellers ins Kino

von Peter Claus  21.12.2025

Gastbeitrag

Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum schweigt ihr?

Jan Grabowski fragt die deutschen Historiker, warum sie es unwidersprochen stehen lassen, wenn ein Holocaust-Experte für seine Forschungsarbeit diskreditiert wird

von Jan Grabowski  21.12.2025

In eigener Sache

Die Jüdische Allgemeine erhält den »Tacheles-Preis«

Werteinitiative: Die Zeitung steht für Klartext, ordnet ein, widerspricht und ist eine Quelle der Inspiration und des Mutes für die jüdische Gemeinschaft

 21.12.2025

Glosse

Das kleine Glück

Was unsere Autorin Andrea Kiewel mit den Produkten der Berliner Bäckerei »Zeit für Brot« in Tel Aviv vereint

von Andrea Kiewel  20.12.2025

Aufgegabelt

Apfel-Beignets

Rezept der Woche

von Katrin Richter  20.12.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Ab jetzt nur noch mit Print-Abo oder Es gibt viele Gründe, auf 2026 anzustoßen

von Katrin Richter  20.12.2025