Philosophie

Autoritäre Versuchung

Es war ein Paukenschlag: Anfang Mai 1977 erschienen in Frankreich zwei Bücher, die über die Intellektuellenwelt hinaus Furore machten und auf gewisse Weise bis heute in den Debatten präsent sind, 40 Jahre später.

Stehen sie womöglich gar in indirekter Beziehung zum Wahlsieg des liberalen Emmanuel Macron? André Glucksmanns (bald darauf auch auf Deutsch übersetzte) Meisterdenker waren ein Frontalangriff auf die Philosophen Fichte, Hegel und Marx, denen er eine Mitschuld am Totalitarismus des 20. Jahrhunderts gab.

Zwar hatte über drei Jahrzehnte zuvor bereits Karl Popper in seiner längst legendär gewordenen Studie Die offene Gesellschaft und ihre Feinde jenes staatsvergottende, deterministische Denken seziert, das von einem »objektiven Bewegungsgesetz der Geschichte« (Marx) ausging und im Namen vermeintlichen Fortschritts alle Mittel heiligte. Im Frankreich der späten 70er-Jahre aber dominierte noch immer ein linksintellektuelles Milieu, das bei aller Kapitalismuskritik nichts vom Schrecken des Gulag und auch nur wenig von Auschwitz hören wollte.

Glucksmanns damaliger Gegenspieler war der Philosoph Alain Badiou, der als eloquenter Stalin-Rechtfertiger noch heute gern gesehener Talkshow- und Feuilletongast ist und in der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen den linkspopulistisch-antiisraelischen EU-Verächter Jean-Luc Mélenchon inspirierte.

Barbarei Das zweite Buch, das damals im Mai ›77 Frankreich aufrüttelte, stammte von Bernard-Henri Lévy, trug den Titel Die Barbarei mit menschlichem Gesicht und hatte, wenngleich mit pathetischerem Aplomb geschrieben, die gleiche diktaturkritische Stoßrichtung. Lévy, wie Glucksmann ein junger areligiös-jüdischer Intellektueller, machte im straff zentralisierten Frankreich nicht nur eine fatale Kommunismus-Affinität aus, sondern auch ein Faible für einen Blut-und-Boden-Faschismus à la française.

Kollegen wie Michel Foucault und Roland Barthés stimmten diesen – zu jener Zeit in allen Medien breit diskutierten – Thesen zu, andere, wie der einstige SPD-Vordenker Peter Glotz, übten sich in Schmallippigkeit und sprachen angesichts des eleganten Stils dieser »noveaux philosophes« von »Pariser Armani-Philosophen«. Eine ungerechte Kritik, denn in den Folgejahren zählten der 2015 verstorbene André Glucksmann und der 1948 geborene Bernard-Henri Lévy immer wieder zu jenen Intellektuellen, die den Elfenbeinturm verließen, reisten, demokratischen Oppositionellen beistanden und im Namen universeller Menschenrechte protestierten: gegen die rechtsextremen Regimes in Lateinamerika ebenso wie gegen die Ostblock-Diktaturen, später gegen Milosevic, Putin und Le Pen.

Zusammen mit den anderen »nouveaux philosophes« wie Pascal Bruckner und (dem etwas konservativeren) Alain Finkielkraut hielten Glucksmann und Lévy das traditionelle Rechts-Links-Schema schon vor 40 Jahren für obsolet und engagierten sich stattdessen gegen ein autoritäres Denken, das – die Wählerstimmen für Marine Le Pen und Mélenchon beweisen es – bis heute virulent ist. Alltagssensibler kann Philosophie kaum sein. Was an ihr spezifisch jüdisch ist? »Vielleicht die Skepsis und das permanente Nachfragen«, pflegte André Glucksmann zur Antwort zu geben.

Solidarität Als Kind exilierter österreichischer Antifaschisten 1937 in Boulogne geboren, war sein Vater im Krieg gegen die Wehrmacht gefallen; die Mutter überlebte mit dem Sohn die Okkupation in einem Versteck. Als »Solidarität der Erschütterten« bezeichnete Glucksmann seine Philosophie, die permanent vom Widerspruch her dachte und der Erfahrung von Brüchen, Enttäuschungen und Gefahren größere existenzielle Bedeutung beimaß als vagen Träumereien von einem utopischen Wolkenkuckucksheim. Nicht zufällig war Glucksmanns letztes Buch eine Abrechnung mit Martin Heidegger, dessen Antisemitismus in eins ging mit einer unklaren, verschwurbelten Sprache, die freilich auch in Frankreich so mancher Mode-Denker goutierte.

Schräge Ironie der Geschichte: Gerade den »nouveaux philosophes«, die vor vier Jahrzehnten so vehement die intellektuelle Bühne betraten und gängige Theorien gegen den Strich bürsteten, wurde und wird der Vorwurf gemacht, narzisstische Trendsetter zu sein. Gewiss, der noch immer blendend aussehende Bernard-Henri Lévy – Markenzeichen: wallendes Haar, offenes weißes Hemd – ist nicht der Typ des grüblerischen Stubenhockers. Seine ungebrochene Medienpräsenz sollte freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Buch wie L‹idéologie française über die rotbraunen Wurzeln des französischen Rechtsextremismus eben keine Mehrheitsmeinung transportierte, sondern aus einer Minderheitenposition heraus geschrieben war, die ungleich genauer hinzuschauen vermochte.

Propheten Wer diese bereits 1981 erschienene (und leider noch nicht auf Deutsch übersetzte) Streitschrift für obsolet hält, höre sich nur einmal die Hassreden Marine Le Pens und des linksextremen Jean-Luc Mélenchon an, die ohne Scham und Scheu dem »Rothschild-Banker Emmanuel Macron« gelten. Ebenso aktuell geblieben ist auch Lévys großer Essay Das Testament Gottes. Der Mensch im Kampf gegen Gewalt und Ideologie – eine Hommage an den Widerspruchsgeist der Propheten Jesaja und Jeremia, die selbst im Angesicht Gottes wagten, renitente Fragen zu stellen.

Kein Zufall, so Lévys Resümee, dass die Neorechten auf solches Erbe allergisch reagieren und bei ihrer vermeintlichen Abendlandretterei lieber auf neoheidnische Mythen zurückgreifen, in denen ein imaginäres »Volk« alles ist und der Einzelne nichts. Gerade dem Individuum, von dem nicht abstrahiert werden darf, will man nicht der Barbarei Tür und Tor öffnen, hat der 1948 geborene Alain Finkielkraut das wohl schönste Buch der »nouveaux philosophes« gewidmet: Die Weisheit der Liebe, inspiriert von Finkielkrauts Lehrer, dem Moralphilosophen Emmanuel Lévinas, ist das Hohelied auf eine Ethik, die sich nicht an Kitschparolen berauscht.

Modell Die jüdische Erfahrung des Einsam- und Ausgegrenztseins erhält hier eine universelle Deutung von bestechender Stringenz: »Der Hass auf den anderen Menschen (für den der Antisemitismus das Modell liefert) ist weniger die Zurückweisung der Vielfalt, er verrät vielmehr die Zurückweisung der dem Ich zugefallenen Verantwortung.«

In einer Zeit, in der ranzige Kollektiv-Ideologien von links bis rechts wieder einmal – und im wahrsten Wortsinn – als der neueste Schrei feilgeboten werden, sind die skrupulösen Reflexionen dieser jüdischen Denker notwendiger denn je.

Biografie

Vom Suchen und Ankommen

Die Journalistin hat ein Buch über Traumata, Resilienz und jüdische Identität geschrieben. Ein Auszug aus ihrer ungewöhnlichen Entdeckungsreise

von Sarah Cohen-Fantl  26.10.2025

Alina Gromova

»Jedes Museum ist politisch«

Die neue Direktorin des Jüdischen Museums München über ihre Pläne

von Katrin Diehl  26.10.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Herbstkaffee – und auf einmal ist alles so »ejn baʼaja«

von Nicole Dreyfus  26.10.2025

Auszug

»Ein Neuanfang ist möglich«

Der israelische Schriftsteller Eshkol Nevo führt sein Kriegstagebuch trotz Waffenstillstand weiter

von Eshkol Nevo  26.10.2025

Geheimnisse und Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter  26.10.2025

Aufgegabelt

Couscous mit Gemüse

Rezept der Woche

von Katrin Richter  24.10.2025

Rezension

Kafkaeskes Kino: »Franz K.«

Die Regisseurin, die für Hitlerjunge Salomon eine Oscar-Nominierung erhielt, hat das Leben des Schriftstellers verfilmt. Der Zuschauer darf »Franz K.« nicht nur als gequältes Genie-Klischee, sondern als dreidimensionalen Menschen erleben

von Patrick Heidmann  24.10.2025

Talmudisches

Das Schicksal der Berurja

Die rätselhafte Geschichte einer Frau zwischen Märtyrertum und Missverständnis

von Yizhak Ahren  24.10.2025

Dresden

Jüdische Woche eröffnet

Das Event bietet bis Sonntag Tanz, Theater, Ausstellungen, Konzerte, Lesungen und Gesprächsrunden

 24.10.2025