»Ungehorsam«

Aufbegehren mit der Brechstange

Perücken vom Kopf gerissen: Rachel Weisz (l.) und Rachel McAdams Foto: dpa

Ach ja, der gute alte Netflix-Algorithmus. Da schaut man die in weiten Teilen sehr gelungene Miniserie Unorthodox, die, angelehnt an einen autobiografischen Roman, von der Flucht einer jungen Jüdin aus einer ultraorthodoxen Glaubensgemeinschaft aus New York nach Berlin erzählt, und siehe da: Das Making-of dazu ploppt auf, dicht gefolgt von dem Dokumentarfilm One of Us über traumatisierte und misshandelte chassidische Juden. Und nun, ganz frisch, reiht sich Sebastián Lelios Ungehorsam in diese computergenerierte Binge-Reihe ein.

Wobei, ganz so frisch ist das Drama des chilenischen Regisseurs nicht mehr. Nach der Premiere auf dem Filmfest in Toronto im Jahr 2017 kam der Film gar nicht erst in die deutschen Kinos, sondern landete direkt auf DVD und jetzt eben im Portfolio des Streaming-Anbieters. Lelios Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Naomi Alderman und ist die erzählerisch diametrale Schwester zur Serie Unorthodox. Ging es dort um die Flucht aus einer orthodoxen Gemeinde, handelt Ungehorsam von einer Rückkehr in eine solche. Oder genauer, von einem temporären Zwischenstopp.

RÜCKKEHR Denn dass die punkig angelegte, von Rachel Weisz gespielte Fotografin Ronit nicht mehr warm werden möchte mit ihrer alten Gemeinde, liegt auf der Hand. Sie war aus dem alten Leben in London in ein neues nach New York geflohen und ist nur zurückgekommen, um ihrem verstorbenen Vater, dem allseits geschätzten Rabbi Krushka, die letzte Ehre zu erweisen.

Es sind Geschichten der Emanzipation und der Frauen, die Lelio umtreiben.

Es sind Geschichten der Emanzipation und der Frauen, die Lelio umtreiben. In Gloria von 2013, den der Regisseur fünf Jahre später selbst noch einmal als amerikanisches Remake neu auflegte, erzählte er von einer lebenslustigen Endfünfzigerin. Eine fantastische Frau handelt von einer Transgender-Frau im Kampf gegen Vorurteile. Das chilenische Drama wurde 2018 mit dem Oscar als bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet.

FREIHEIT Das Thema von Ungehorsam wird gleich in den ersten Einstellungen markiert, wenn Ronits Vater bei seiner letzten Predigt davon spricht, dass jeder die Freiheit besitzt, mit seinem Leben anzufangen, was er möchte. Lelio erzählt von gelebter Freiheit und dem Wunsch danach. Ersteres verkörpert durch die kosmopolitische, rauchende, sich als Künstlerin verdingende Ronit, Letzteres durch ihre alte Freundin Esti (Rachel McAdams), die zu Ronits Überraschung den gemeinsamen Freund Dovid (Alessandro Nivola) geheiratet hat. »Du siehst sehr nach New York aus«, sagt die eine, »du siehst strenggläubig aus, Esti«, entgegnet die andere auf der Totenwache für den Verstorbenen.

Auf dem Weg zum Hesped, der Trauerrede, die Dovid in seiner Funktion als neuer Rabbi halten soll, bricht sich die alte Leidenschaft zwischen Ronit und Esti Bahn: ein Herantasten, dann erste Küsse, bevor Perücken vom Kopf gerissen werden und die Frauen sich bei einem fast schon brachial inszenierten Tête-à-tête lieben. Ein lesbisches Aufbegehren mit der Brechstange.

WELTBILDER Der Motor von Ungehorsam ist die Konfrontation einander widersprechender Weltbilder. Lelio, der das Drehbuch gemeinsam mit Rebecca Lenkiewicz geschrieben hat, versucht, diese Reibung produktiv zu übersetzen und die Macht der Bilder zu beschwören. Seine Ronit, die im Roman eine Investmentbankerin ist, wird zur Personifikation dieses Vorhabens: eine Frau, die von Bildern lebt und bereut, niemals eines von ihrem Vater geschossen zu haben.

Nur findet der Film selten passende Bilder für das Dilemma seiner Figuren, weder für Estis Gitterstäbe aus Glaube und Tradition noch für Ronits Haltlosigkeit. Stattdessen wird (zu) vieles in theaterhafte Dialoge gelegt und in einen Score, der sich als bedeutungsschwangeres Störgeräusch unter die Szenen legt oder diese mit wiederkehrendem Motiv kitschig auflädt.

Ungehorsam holpert regelrecht durch seine Emanzipationsetappen und bringt uns die Frauen kaum nahe. Dagegen können auch die beiden fantastischen Hauptdarstellerinnen nicht anspielen. So recht weiß Lelio nicht, wohin er eigentlich will. Sein Film über die Freiheit ist gefangen in Gegensätzen.

»Ungehorsam« (»Disobedience«, 2017), Regie: Sebastián Lelio, mit Rachel Weisz, Rachel McAdams, Alessandro Nivola. Auf Netflix

Verriss

Toxisch

Deborah Feldmans neues Buch »Judenfetisch« strotzt vor Israelhass – verwurzelt im Antizionismus der Satmarer Sekte, in der die Autorin aufwuchs

von Daniel Killy  28.09.2023 Aktualisiert

Film

Inszenatorisches Understatement

Barbara Albert hat sich an Julia Francks Bestseller »Die Mittagsfrau« gewagt. Sie schildert – teils sperrig – ein deutsch-jüdisches Schicksal

von Jonathan Guggenberger  28.09.2023

Mark Ivanir

»Den Nazis eine reinhauen«

Ein Interview mit dem Schauspieler über seine Rolle als jüdischer Gangster in der vierten Staffel von »Babylon Berlin«

von Ayala Goldmann  28.09.2023

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 28.09.2023

Tourende Legenden

Jeff Lorber: Chemiker an den Tasten

Der Pianist und Komponist bietet nun Jazz-Funk auf deutschen Bühnen

von Imanuel Marcus  27.09.2023

Berlin

Dieser Dirigent soll heute Daniel Barenboim nachfolgen

Die »Berliner Zeitung« nannte unter Berufung auf mehrere Quellen einen Namen

 27.09.2023 Aktualisiert

Aktion

»Hevenu Schalom Alechem« am Tag der Deutschen Einheit

Mit Liedern sollen Zeichen für Solidarität gesetzt werden

 26.09.2023

Raten

Unsere Zahl der Woche: 0

Fun Facts und Wissenswertes

 23.09.2023

Glosse

Der Rest der Welt

Warum ich leichter in den Himmel als in die Synagoge komme

von Beni Frenkel  23.09.2023