Literatur

Auf das Lesen!

Bücher können inspirieren, trösten und den Blick in neue Welten öffnen. Gerade im Lockdown ist das wichtig

von Ellen Presser  24.12.2020 11:36 Uhr

Foto: Getty Images/iStockphoto

Bücher können inspirieren, trösten und den Blick in neue Welten öffnen. Gerade im Lockdown ist das wichtig

von Ellen Presser  24.12.2020 11:36 Uhr

Wer glaubt, dass jetzt ein Rundumschlag für das gute Buch zu jeder Stunde kommt, also so etwas wie »Das Hohelied« aufs Buch, den muss ich fürs Erste enttäuschen. Ich darf das – als Angehörige des Volks des Buches schlechthin, sprich: der Hebräischen Bibel.

Zumal, wenn man zu einem Jahreswechsel, auch einem nichtjüdischen, nachdenkt. Geht es hier um eine Bilanz vor dem eigenen Bücherregal? Darum, seinen Keller oder seine Lebensumstände aufzuräumen? Geduldiger mit seinen Mitmenschen zu sein? Sich mehr zu bewegen? Abstand zu halten? Was 2020 ein zudem gesundheitsförderliches Verhalten gewesen wäre.

fantasie In den vergangenen neun Monaten haben Baumärkte, soweit sie geöffnet blieben, größte Umsätze eingefahren, jedenfalls mehr als der Bucheinzelhandel. Die massivsten Einbrüche gab es laut Erhebungen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels im Bereich der Reiseliteratur, leichte Steigerung bei Kinder- und Jugendbüchern. In der Fantasie auf Reisen zu gehen, zieht gar nicht, aber die zu Hause gebliebenen Kinder zum Lesen zu zwingen, das passt. Währenddessen puzzelten viele Erwachsene lieber daran herum, aus ihrem Home ein Castle zu machen. Heimwerken war angesagt.

Lesen verändert die Wahrnehmung, schärft den Blick für das, was um einen herum geschieht.

Bevor man sich einen Nagel in den Daumen statt in die Wand rammt, hätte man es sich auf der Couch gemütlich machen können, um einen Buchdeckel anzuheben und nachzusehen, was darunter lauert. Hier folgt nun die Warnung. Lassen Sie das Buch – erst einmal – ungeöffnet. Denn Lesen birgt Risiken und Nebenwirkungen. Lesen gefährdet nämlich die Dummheit. Lesen verändert die Wahrnehmung, schärft den Blick für das, was um einen herum geschieht.

Das ist gar nicht gut, zumindest aus der Sicht von Despoten und Diktatoren, Fundamentalisten und Fanatikern. Sie unterdrücken die freie Rede in Wort und Schrift, wo immer sie diese wittern, denn sie fürchten sie. Journalisten werden inhaftiert, Redaktionen gleichgeschaltet, Schriften konfisziert. »Writers in Prison« können davon ein Lied singen.

glaubensfanatismus Bücherverbrennungen hat es schon lange vor dem Buchdruck gegeben, im kaiserlichen China ebenso wie unter römischen Imperatoren und christlichen Eiferern. 1242 fand die Pariser Talmudverbrennung statt, eine der größten Vernichtungen jüdischen Schriftguts, die auf ein Dekret Papst Gregors IX. zurückging. Später beschränkte man sich nicht mehr nur aufs Pergament. Glaubensfanatismus ist ein religiöses wie politisches Phänomen. Wer kennt nicht die Bilder öffentlicher Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 von Berlin bis München?

Daran beteiligten sich auch Studenten, die künftige Elite Deutschlands. Sie warfen die Ausbeute ihrer schändlichen Streifzüge durch öffentliche Bibliotheken und häusliche Bücherschränke ins Feuer. Nicht auszudenken, was Autoren wie Heinrich Heine und Jakob Wassermann widerfahren wäre, wenn sie noch gelebt hätten.

1953 veröffentlichte Ray Bradbury den Roman Fahrenheit 451. Er handelt von einem Land, in dem der Besitz von Büchern und ihre Lektüre bei Todesstrafe verboten sind. Die Aufgabe der Feuerwehr besteht nicht darin, die Menschen vor Feuer zu schützen, sondern Bücher zu verbrennen. Der Feuerwehrmann Guy fängt schließlich selbst Feuer, als er seine Nase in ein paar Bücher steckt, die er, neugierig geworden, beiseitegeschafft hat.

fiktion Die Fiktion ist nicht galaxienweit weg von der Wirklichkeit. Die Biologin Ljudmila Ulitzkaja kostete ihre Teilnahme an einem Lesezirkel, in dem heimlich Samisdat-Literatur gelesen wurde, ihre Lebensstellung. Das Berufsverbot brachte sie dazu, schließlich Schriftstellerin zu werden, übrigens eine der besten russischsprachigen unserer Zeit. Beispiele findet man auch in anderen Kulturkreisen.

Ayaan Hirsi Ali aus Somalia und Hamed Abdel-Samad, als Sohn eines Imams in Ägypten geboren, berichten beide, dass säkulare Bücher in der Welt ihrer frühen Prägung strengstens verboten waren. Die Berührung eines unheiligen Buches, der erste Schritt in eine öffentliche Bibliothek, brachte sie mit den Werten freier Gesellschaften, der Erkenntnis, dass man selbst denken darf, in Berührung. Dass man seine Meinung ändern darf. Dass diese Freiheit aber auch einen Preis hat, nämlich den, für sein Handeln Verantwortung zu übernehmen.

Wer im Lesen seine portable Heimat findet, hält es bestimmt mit Heinrich Heine: »Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die gewaltigste.«

»Lesen verboten« gilt auch für Die Romanleserin der in Jerusalem geborenen, in New York aufgewachsenen Autorin Pearl Abraham. Sie tut es trotzdem und bricht schließlich aus der Welt der Satmarer Chassidim aus. Ebenso wie Deborah Feldman, die in Unorthodox beschreibt, welches Erweckungserlebnis sie Büchern verdankte, das sie schließlich bis nach Berlin führte.

alefbet Lesen lernen ist harte Arbeit. Das wusste man schon im Cheder, wo kleine jüdische Jungs das Lernen des Alefbets seit jeher mit Honig und anderen Süßigkeiten schmackhaft gemacht wird.

Wer im Lesen seine portable Heimat findet, hält es bestimmt mit Heinrich Heine: »Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die gewaltigste.« Darin haben Autobiografien und Automagazine, Bildbände und Bastelanleitungen, Comics und Graphic Novels, Gebetbücher und Gedichtbände, Krimis, Kochbücher und Coffee-Table-Prachtexemplare, Bilder- und Schulbücher ihren Platz. Sich zwischen all diesen Welten frei zu bewegen, ist das Privileg der »Krone der Schöpfung«, des Menschen. Nutzen wir es!

Die Autorin ist Kulturdezernentin der IKG München und Oberbayern.

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