Sam Sax

Apokalyptisch in New York

Teilnehmer der Jewish Queer Youth beim NYC Pride March am 25. Juni 2023 in New York Foto: picture alliance / Charles Sykes/Invision/AP

Yr Dead ist der erste Roman des amerikanischen Autors Sam Sax, über den es auf Klappentexten, aber auch auf dessen Website heißt: »Sam Sax is a queer, jewish writer and educator. They are the author of Yr Dead (2024) and PIG named one of the best books of 2023 by New York Magazine and Electric Lit …«

In der amerikanischen Poetry-Szene hat Sax seinen Stand, sowohl wegen seiner prämierten Lyrikbände (neben PIG sind das bury it von 2018, madness von 2017 sowie einige Chapbooks, also kurze Sammlungen literarischer Werke) als auch wegen seiner besonderen Auftritte bei angesagten Poetry-Slams. Ins Deutsche wurde Sax bisher nicht übersetzt, was sowohl schade als auch respektvoll ist gegenüber den Originaltexten mit sehr eigenen Assoziationsräumen, die eng über die amerikanische Sprache funktionieren. Im Moment lehrt Sax an der Stanford University.

Yr Dead, das vom Verlag »Daunt books publishing« als »diasporic bildungsroman« angekündigt wird und es auf Anhieb auf die aktuelle Longlist für den National Book Award geschafft hat, ist ein tieftrauriges, ein berührendes, ein jüdisches, ein queeres, ein sehr menschliches Buch. Seine Seiten sind nur locker gefüllt mit ganz unterschiedlichen literarischen oder literarisierten Kurzformen, die auf ihre Art Erinnertes festhalten. Das geht von Chats bis zu schräg memorierten (und kursiv gedruckten) jüdischen Volkserzählungen (»In a town called Zloknovia, in what is modern-day Kaunas, there was …«). Dabei wirkt alles lyrisch, alles fragmentarisch.

Ein Limit an Erlebtem erreicht

Inhaltlich konservieren die Textsplitter in einer Rückschau neuralgische Momente eines Lebens. Bruchstück für Bruchstück entsteht das Bild eines äußerst empfindsamen Menschen, der jetzt, genau in diesem Augenblick, entscheidet, ein Limit an Erlebtem erreicht zu haben, was ihn in seinen Entscheidungen so frei wie extrem werden lässt. Er verschwindet (ist von Anfang an verschwunden), und zwar unwiederbringlich.

Ezra verschwindet, ist von Anfang an verschwunden, und zwar unwiederbringlich.

Ezra, so der Name des Protagonisten, vollzieht eine Selbstverbrennung aus der Überzeugung heraus, dass all die Proteste, zu denen er zusammen mit anderen immer und immer wieder auf die Straße gegangen ist (»At the last protest before my last protest …«), dass dieses allgemeine Abmühen zumindest ab und zu nach einer Übersteigerung verlange. Apokalyptisch aufgeladene Sätze durchziehen, der Radikalität dieses Schrittes entsprechend, das Buch von Anfang an (»The year global temperatures break every record, we go to January protests in shorts and t-shirts.«).

Die erzählte Zeit umfasst in Yr Dead nicht mehr als die Stunden zwischen der Selbstverbrennung der Ich-Person (mitten in New York, während eines Protestmarsches) und dessen Tod. Nie ist dabei von der Präsidentschaft Donald Trumps die Rede, nie von einer neuen, die ganze Welt in Atem haltenden Epidemie (»News about new deseseases …«). Der Roman ist auf geheimnisvolle Weise appellativ, ist faktisch, ohne Fakten zu nennen.

Ezras Judentum hat nichts mit dem des Vaters zu tun

Wir wissen uns in New York, wissen uns in der Zeit unter Trump, sind Zuhörer einer queeren Coming-of-Age Geschichte, die nicht wirklich herausfindet aus diesem Coming-of-Age-Feeling. Da ist jemand sehr sehnsuchtsvoll auf ewiger Identitätssuche (»Belonging … is an unreachable and fickle state of mind«), bestimmt sich über Abgrenzungen zu anderen: Ezras Judentum hat nichts mit dem des Vaters zu tun, der neuerdings einer strenggläubigen, sektenartigen Gemeinschaft angehört (die Mutter ist da längst gegangen). Es hat nicht zu tun mit dem Judentum der Großelterngeneration, die aus dem Osten kommend in Amerika gelandet ist und die sich sehr jüdisch darin zeigt, alles Jüdische mit theatralischer Geste abzulehnen.

Seine Identität hat auch längst nichts mehr mit seiner Kindheit in Queens zu tun, mit der täglichen »Hebrew School« (»Surrounded by other little dirtbag Jews …«), mit den Sommercamps. Und dennoch stellt sich Ezra ganz in die jüdische Tradition einer wie auch immer gestalteten Kontinuität (oder wie es in Saxʼ Gedicht »LʼSimcha: Tree of Life« über den Anschlag auf die Synagoge in Pittsburgh von 2018 heißt: »My people are an extant species. My people are geniuses / at turning / trauma into text.).

Die Faszination, die von Yr Dead aus-geht, hat auch damit zu tun, dass Sam Sax die Vorstellung einer chronologisch ablaufenden Zeit aus den Angeln hebt. Wie bei einem real sichtbaren Lichtstrahl eines längst gestorbenen Sterns fallen im Text Existenz und Nichtexistenz (des Pro­tagonisten) zusammen. Das Buch zieht uns eng an Ezra heran, zieht uns tief mit ihm hinunter.

Solange wir lesen, leben wir, lesen von winzigen Hoffnungsschimmern

Eine kleine Distanz bleibt immer: Solange wir (den Text) lesen, leben wir, lesen von winzigen Hoffnungsschimmern, wie davon, dass Ezra eine Amerikaflagge auf seinem T-Shirt trug, wie davon, dass Proteste nicht immer etwas bewirken, dass es sie aber immerhin gibt. Und was hat das überhaupt zu bedeuten, dass Ezras Stimme (immer, wenn wir weiterlesen) weiterhin hörbar bleibt?

Yr Dead verhandelt einen Selbstmord. Das Buch nimmt kein Blatt vor den Mund, was Gewalt, was Sexszenen angeht. Nach Sam Sax ist es (so heißt es gleich am Anfang des Buches auf Jiddisch unter der Widmung »for everyone who’s kept me alive«) bestimmt für »waj­ber un far manssbiln woss sajnen asoj wi wajber, doss hejsst sej kenen nit lernen«.

Die Literatur von Sam Sax zu mögen, bedeutet übrigens nicht, hinter seinen politischen Statements zu stehen. Sax, so lässt sich auf Instagram nachlesen, ist »für Waffenstillstand, Waffenembargo & Free Palestine«. Auch vor dem Wort »Genozid« schreckt er nicht zurück. Er schreibt außerdem: »The genocide that’s happening right now, funded by American tax dollars, is ideologically fueled by the exploitation of Jewish grief & suffering. (…) We are not a people of the state, we are a people of the book. I can think of nothing more urgent and more Jewish than fighting to end the occupation and working for the freedom of Palestinian people.« Und Ezra schweigt.

Sam Sax: »Yr Dead«. Daunt Books, London 2024, 270 S., 12,50 €

Biografie

Schauspieler Berkel: In der Synagoge sind mir die Tränen geflossen 

Er ging in die Kirche und war Messdiener - erst spät kam sein Interesse für das Judentum, berichtet Schauspieler Christian Berkel

von Leticia Witte  11.07.2025

TV-Tipp

Der Mythos Jeff Bridges: Arte feiert den »Dude«

Der Weg zum Erfolg war für Jeff Bridges steinig - auch weil der Schauspieler sich gegen die Erfordernisse des Business sträubte, wie eine Arte-Doku zeigt. Bis er eine entscheidende Rolle bekam, die alles veränderte

von Manfred Riepe  11.07.2025

Thüringen

Yiddish Summer startet mit Open-Air-Konzert

Vergangenes Jahr nahmen rund 12.000 Menschen an den mehr als 100 Veranstaltungen teil

 11.07.2025

Musik

Nach Eklat: Hamburg, Stuttgart und Köln sagen Bob-Vylan-Auftritte ab

Nach dem Eklat bei einem britischen Festival mit israelfeindlichen und antisemitischen Aussagen sind mehrere geplante Auftritte des Punk-Duos Bob Vylan in Deutschland abgesagt worden

 10.07.2025

Agententhriller

Wie drei Juden James Bond formten

Ohne Harry Saltzman, Richard Maibaum und Lewis Gilbert wäre Agent 007 möglicherweise nie ins Kino gekommen

von Imanuel Marcus  12.07.2025 Aktualisiert

Kulturkolumne

Bilder, die bleiben

Rudi Weissensteins Foto-Archiv: Was die Druckwelle in Tel Aviv nicht zerstören konnte

von Laura Cazés  10.07.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter  10.07.2025

Ethik

Der Weg zum Glück

Nichts ist so flüchtig wie der Zustand großer Zufriedenheit. Doch es gibt Möglichkeiten, ihn trotzdem immer wieder zu erreichen – und Verhaltensweisen, die das Glück geradezu unmöglich machen

von Shimon Lang  10.07.2025

Essay

Das Jewish-Hollywood-Paradox

Viele Stars mit jüdischen Wurzeln fühlen sich unter Druck: Sie distanzieren sich nicht nur von Israel und seiner Regierung, sondern auch von ihrem Judentum. Wie konnte es so weit kommen?

von Jana Talke  10.07.2025