Dokumentation

Antisemitismus und »Palästinensismus« unter syrischen Geflüchteten

Günther Jikeli ist Professor für Antisemitismusstudien an der Indiana University Bloomington. Foto: PR

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Antisemitismus und »Palästinensismus« unter syrischen Geflüchteten

In Frankfurt am Main organisiert das Tikvah Institut eine Konferenz zur aktuellen Antisemitismusforschung. Günther Jikeli hat am Sonntag eine Studie zu Syrern in Deutschland vorgestellt

von Günther Jikeli  01.12.2024 17:50 Uhr

Der Antisemitismus aus islamistischen Kreisen ist bei Weitem nicht die einzige Form von Antisemitismus in Deutschland. Aber wir sprechen darüber, weil er in den letzten Jahrzehnten zu einer ernstzunehmenden Gefahr für Jüdinnen und Juden geworden ist. Die Gefahr von terroristischer Gewalt gegen jüdische Einrichtungen und Personen geht heute auch von islamistischen Gruppen und Einzelpersonen aus.

Nicht alle islamistische Gruppen sind terroristisch. Einige streben die Umwandlung der Gesellschaft von einer Demokratie zu einer Herrschaft nach den angeblich gottgegebenen Regeln der Scharia langfristig an, durch Bildung und explizit unter Ausnutzung der Demokratie. Die Scharia-Regeln in der angestrebten islamischen Herrschaft sollen dabei selbstverständlich von einigen auserwählten Herren interpretiert werden, die sich dafür von Gott berufen fühlen.

Empirisch lässt sich jedenfalls beobachten, dass alle zumindest mir bekannten islamistischen Gruppen und Bewegungen, von der Muslimbruderschaft über die türkische AKP und Milli Gürüs bis zu Al Qaida, Hamas, Samidoun, und der Islamischen Republik Iran ein zutiefst antisemitisches Weltbild propagieren.

Überproportional viele Muslime sind antisemitisch eingestellt

Teil davon ist die Idee, »die Muslime« und »die Juden« seien für alle Zeiten Feinde, meist verbunden mit dem Gefühl, dass sich das Ende der Welt nähert, in dem es zu einem großen Religionskrieg kommt, in dem »die Muslime« »die Juden« besiegen werden. Das lässt sich auch nachlesen, etwa bei Hassan al-Banna, Said Qutb, Erbakan oder in der Hamas Charter von 1988.

Ob aber alle Menschen, die auf die eine oder andere Weise mit islamistischen Bewegungen verbunden sind, fest an entsprechende Weltbilder glauben, ist eine andere Frage, oft sind es Versatzstücke. Dies gilt selbstverständlich umso mehr für Musliminnen und Muslime im Allgemeinen. Nur ein Teil von ihnen wünscht sich die Scharia oder ist Anhängerin oder Anhänger von islamistischen Gruppen.

»Die muslimische Identität korreliert mit antisemitischen Einstellungen.«

Empirisch zeigt sich jedoch, dass viele Menschen, die sich als muslimisch verstehen antisemitische Einstellungen haben, und zwar überproportional viele, wie alle entsprechenden Umfragen übereinstimmend zeigen.

Das heißt, die muslimische Identität korreliert mit antisemitischen Einstellungen, und zwar auch, wenn soziodemografische Daten herausgerechnet werden.

Diese Feststellung ist eigentlich unstrittig, auch wenn manche selbst in der Antisemitismusforschung dies immer noch nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Strittig ist allerdings, was denn die Gründe sind für diese Korrelation, die übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern sowie den USA und Kanada in Umfragen festgestellt wurden.

Einige Faktoren begünstigen antisemitische Vorstellungen

Ich denke, dass bei der Frage, woher antisemitische Einstellungen kommen sinnvoll ist, von Faktoren zu sprechen. Denn wir, und da schließe ich sich als muslimisch verstehende Menschen selbstverständlich mit ein, sind alle Individuen, die sich entscheiden, antisemitische Denkmuster anzunehmen oder auch nicht. Und einige Faktoren begünstigen die Annahme von antisemitischen Vorstellungen. Beispielsweise, wenn »die Juden« als Gegner »der Muslime« verstanden werden. Dann kann die Gegnerschaft gegen Juden Teil der Identität werden. Oder eine stetige Berieselung mit antisemitischen Stereotypen im sozialen Umfeld. Dann wird Antisemitismus zur Selbstverständlichkeit. 

Ob »islamistischer Antisemitismus« immer der richtige Begriff ist, hängt davon ab, was konkret gemeint ist. Wenn sich die negative Einstellung gegenüber Jüdinnen und Juden und gegenüber Israel aus einem islamistischen Weltbild speist, beispielsweise aus den Schriften von Qutb, dann ist das Wohl der richtige Begriff. Andere mögen sich aber auf einzelne Verse im Koran oder auf jahrhundertealte anti-jüdische Stereotype, die sich in islamischen Gesellschaften gebildet haben, beziehen. Dann ist der Begriff »islamischer Antisemitismus« zutreffender.

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Es ist aber noch komplizierter. Wenn Menschen, die sich als muslimisch verstehen, antisemitisch denken, kann das islamische oder islamistische Bezüge haben, muss es aber nicht. Auch andere Faktoren können eine Rolle spielen.

Um herauszufinden, wie sich das genau verhält, empfiehlt es sich, mit Musliminnen und Muslimen zu sprechen. Zumindest kann das sehr aufschlussreich sein. Ich möchte über eine Studie reden, die auf Interviews mit mehr als 200 Geflüchteten aus Syrien basiert, die allermeisten davon sind Muslime. Das Buch heißt »Von Damaskus nach Berlin. Antisemitismus unter arabischen und kurdischen Geflüchteten aus Syrien« und erscheint im Januar.

Syrische Geflüchtete sind keine homogene Gruppe

Etwa eine Million syrische Staatsangehörige gibt es in Deutschland. Sie bilden damit inzwischen die drittgrößte Gruppe von Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit – nach Menschen mit türkischem und ukrainischem Pass.

Syrische Geflüchtete sind allerdings weder ethnisch noch religiös eine homogene Gruppe.

In Syrien herrscht Bashar Al-Assad nach wie vor, zumindest über 2/3 des Territoriums. Davor war sein Vater an der Macht und seither kommt die politische und militärische Führungsriege fast ausschließlich aus der alawitische Minderheit, die etwa 10 Prozent der Bevölkerung darstellen. Die große Mehrheit sind Sunniten, darunter viele säkulare, aber auch einige Islamisten, wie man in den letzten Tagen wieder deutlich gesehen hat. Eine noch größere Spaltung ist allerdings ethnischer Art. Die kurdische Minderheit wurde seit Jahrzehnten unterdrückt und litt unter dem arabischen Nationalismus, der Staatsideologie ist.

In Deutschland sind etwa 30 Prozent der Syrerinnen und Syrer kurdisch. Und dies ist auch wichtig in Bezug auf Einstellungen zum jüdischen Volk und zu Israel. Denn interessanterweise zeigten sehr viele, aber längst nicht alle kurdischen Befragten Sympathien mit dem jüdischen Volk und Israel. Einige zogen direkte Parallelen zwischen dem kurdischen und dem jüdischen Volk.

»Kurdische Befragte zeigen oft Sympathien mit dem jüdischen Volk und Israel.«

Die Interviews weisen insgesamt auf soziale beziehungsweise ideologische Einflussfaktoren hin, die oft miteinander verwoben sind. Zunächst sind der gesellschaftliche Kontext zu nennen und das direkte soziale Umfeld in Syrien und in Deutschland. In Teilen der Herkunftsgesellschaft und im sozialen Umfeld vieler Befragter herrscht eine Art antisemitische Norm. Die antisemitische Norm im sozialen Umfeld wurde zum einen in antisemitischen Aussagen erkennbar, die zeigten, dass Interviewte bestimmte Formen des Antisemitismus für selbstverständlich halten.

Zum anderen berichteten Interviewte direkt von einer verbreiteten Judenfeindschaft im Herkunftsland. Das Regime in Syrien betreibt seit Jahrzehnten antisemitische Propaganda, auch in Schulen. Interviewte berichteten von einer Schulbildung, die Israel, aber auch »die Juden« zu Feinden erkläre. Dies bestätigen auch Studien zu syrischen Schulbüchern. Aber auch die unkritische Lektüre von Weltliteratur wie etwa Shakespeares »Kaufmann von Venedig« – ein Buch, das in Syrien zum Kanon der Schulliteratur gehört – kann antisemitische Stereotype produzieren oder verfestigen.

Ethnische Minderheiten in Syrien – insbesondere Kurd:innen – litten jedoch unter der syrisch-arabischen Staatspropaganda, in der für sie kein Platz ist. Viele Kurd:innen sind deswegen auch skeptisch gegenüber der antiisraelischen und anti-jüdischen Propaganda des Regimes. Hinzu kommt, dass einige Kurd:innen das jüdische Volk idealisieren, da es das geschafft hat, was sie selbst anstreben: die Gründung eines Nationalstaats inmitten einer feindlichen, arabisch dominierten Umgebung.

Arabischer Nationalismus geht mit dem Feindbild Israel einher

Versatzstücke panarabischer Ideologie mit ihrem Feindbild des »zionistischen Imperialismus« dämonisieren Israel in einer Weise, die nicht nur Vorstellungen einer israelisch-jüdischen Weltverschwörung beinhaltet und auf eine Auslöschung Israels abzielt, sondern darüber hinaus sämtliche Jüdinnen und Juden unter Generalverdacht stellt, mit einem diabolischen Staat zu sympathisieren oder zusammenzuarbeiten. Arabischer Nationalismus ist kaum zu trennen von dieser panarabischen Ideologie, die wiederum mit dem beschriebenen Feindbild Israel einhergeht. Die Ideologie zeigt sich auch an der Vorstellung eines Imperialismus, der angeblich von Juden oder Zionisten gelenkt sei und es auf Syrien abgesehen habe.

Der formale Bildungsgrad scheint bei der Akzeptanz dieser Ideologie und von Verschwörungsmythen keine große Rolle zu spielen. Vielleicht steigt sie sogar mit dem Bildungsgrad. Ehemalige Lehrer und Universitätsprofessoren erzählten uns die wildesten antisemitischen Verschwörungsfantasien, während andere Geflüchtete ohne Schulabschluss keinerlei Ressentiments gegenüber Jüdinnen und Juden zeigten. Das mag zum einen damit zusammenhängen, dass Menschen mit einem höheren Bildungsgrad länger dem antisemitischen Bildungssystem ausgesetzt sind und zum anderen damit, dass Menschen mit geringerer Schulbildung möglicherweise an sich weniger den Anspruch haben, eine Theorie zur Welterklärung zu aufzustellen. Sie nehmen mutmaßlich die Welt eher hin, wie sie ist oder sehen sie als von Gott gegeben an.

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Die Religiosität von Muslim:innen kann eine Rolle spielen, wenn sie von einer generellen Feindschaft zwischen dem Islam und dem Judentum ausgehen. Versatzstücke islamistischer Ideologie und judenfeindliche Auslegungen des Islams zeigen sich auch bei nicht-islamistisch gesinnten Muslim:innen, einschließlich wenig religiöser Muslim:innen. Sie gehen von einer generellen Feindschaft zwischen »den Muslimen« und »den Juden« aus und berufen sich dabei auf angebliche oder tatsächliche Quellen im Islam.

Bei einigen Befragten zeigte sich eine Art »Palästinensismus«. Die Überidentifikation mit »den Palästinenser:innen« als Opfern erlaubt keine Differenzierung und verbindet sich mit einer automatischen Feindschaft gegenüber »den Juden« und Israel. Dies fanden wir vor allem bei Interviewten mit palästinensischem Hintergrund. Yanes, 32, ein arabisch-palästinensisch-muslimischer Mann aus Damaskus, brachte es so auf den Punkt: »[A]ls Palästinenser denke ich, dass beide [Juden und Israelis] meine Feinde sind.« Auch wenn alle unsere Interviewpartner:innen tendenziell mit Palästinenser:innen sympathisierten, hatten einige von ihnen ein differenzierteres Bild und lehnten beispielsweise palästinensische Terrorgruppen ab.

Antisemitismus wird über alte wie neue Medien verbreitet und wird unkritisch konsumiert. Interviewte nannten als Quellen für antisemitische Stereotype explizit Bücher, Fernsehen und das Internet, einschließlich YouTube. Gerade in neuen Medien werden Verschwörungsfantasien schnell und ungefiltert verbreitet, seien es die »Protokolle der Weisen von Zion« oder Verschwörungsfantasien zu den Anschlägen vom 11. September 2001, den Freimaurern, den »Illuminaten« oder der Familie Rothschild, die allesamt von Interviewten rezitiert wurden.

Die verschiedenen Einflussfaktoren wirken oft zusammen und bestärken sich gegenseitig, selbst wenn die ideologischen Versatzstücke widersprüchlich sind.

Günther Jikeli ist Professor am Institut für Germanistik und Judaistik der Indiana University Bloomington. Den hier dokumentierten Vortrag hielt er am Sonntag auf der Konferenz »Antisemitismuskritische Antisemitismusforschung nach dem 7. Oktober 2023« in Frankfurt am Main.

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