Berlinale

»Angst ist ein Katalysator«

Natalia Sinelnikova, Filmregisseurin in Berlin Foto: Stephan Pramme

Berlinale

»Angst ist ein Katalysator«

Natalia Sinelnikova über ihr Debüt bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin, jüdische Perspektiven und ein Hochhaus in Marzahn

von Jens Balkenborg  12.02.2022 18:07 Uhr

Frau Sinelnikova, Ihr Film »Wir könnten genauso gut tot sein« erzählt aus Sicht einer polnisch-jüdischen Sicherheitsfrau von einer Hochhausgemeinschaft, die abgeschottet von der Außenwelt lebt. Woher stammt die Idee?
Es fing an mit dem Mikrokosmos Hochhaus. Ich bin in Sankt Petersburg geboren, selbst in Hochhäusern aufgewachsen und wollte eine Geschichte erzählen, die an diesem Ort spielt. In die Ereignisse um die Hauptfigur und ihren Kampf darum, dazuzugehören, sind viele meiner eigenen Migrationserfahrungen eingeflossen. Es wurden auch politische Ereignisse aufgegriffen, es ist ein gegenwärtiger und zugleich universeller Film.

Es geht auch darum, was diffuse Ängste mit den Menschen machen. Weil ein Hund verschwindet, gerät die Hausgemeinschaft in Aufruhr. Was fasziniert Sie an der Angst?
Mich fasziniert die Macht der Angst und was sie aus Menschen macht. Angst ist ein System, das sich selbst reproduziert. Wie wird aus einer Mücke ein Elefant? Wie funktionieren Verschwörungstheorien? Dieser Prozess interessiert mich. Wir haben allerdings keinen Film gemacht, in dem die Radikalisierung der Gesellschaft in der Angst erklärt wird, vielmehr ist die Angst im Film ein Katalysator. »Das Gefühl, sicher zu sein, ist genauso wichtig wie die Sicherheit selbst« ist ein treffendes Zitat aus dem Film.

Sicherheit als Grundbedürfnis der Gemeinschaft: Der Poet muss im Keller hausen und wird skeptisch beäugt …
Ob uns das in den 94 Minuten gelungen ist, muss jeder selbst entscheiden. Wir wollten ein Gesellschaftsporträt zeichnen, in dem sich möglichst viele wiedererkennen. Die Figur des Poeten Wolfram hat sich aufgedrängt. In dieser Gemeinschaft sind Sport und Musik hoch angesehen, weil sie als sichere Hobbys gelten und praktiziert werden. Freie Kunst hingegen wird nur toleriert, weil man sich als offene Gesellschaft gibt. Man duldet den Künstler, erlaubt Wolfram, im Fahrstuhl seine Gedichte zu verkaufen. Aber seine Freiheit hat schnell Grenzen.

Eine Parabel auf unsere Gesellschaft?
Ich möchte keine Interpretation geben. Es kann viel auslösen, mit Geschichten konfrontiert zu werden, die weit weg scheinen, in denen man sich dann aber doch wiederfindet. Wir haben den Film von Beginn an bewusst nicht als Sozialdrama angelegt, sondern mit den Mitteln der Sozialsatire, des Thrillers und des absurden Dramas gearbeitet.

Einmal singt jemand das jiddische Wiegenlied »Shlof mayn feygele«. Welche Rolle spielt das Jüdische?
Mir war es wichtig, von einer jüdischen Figur mit einer großen Selbstverständlichkeit zu erzählen. Ich erkläre ihr Jüdischsein dem Publikum nicht, ich mache es spürbar. Ich finde, man sieht im deutschen Film zu oft jüdische Figuren, die exotisiert werden und deren Jüdischsein nur über Religion oder Antisemitismuserfahrungen definiert wird.

Mit der Regisseurin und ehemaligen Stipendiatin des jüdischen Begabtenförderungswerks ELES sprach Jens Balkenborg.

Biografie

Schauspieler Berkel: In der Synagoge sind mir die Tränen geflossen 

Er ging in die Kirche und war Messdiener - erst spät kam sein Interesse für das Judentum, berichtet Schauspieler Christian Berkel

von Leticia Witte  11.07.2025

TV-Tipp

Der Mythos Jeff Bridges: Arte feiert den »Dude«

Der Weg zum Erfolg war für Jeff Bridges steinig - auch weil der Schauspieler sich gegen die Erfordernisse des Business sträubte, wie eine Arte-Doku zeigt. Bis er eine entscheidende Rolle bekam, die alles veränderte

von Manfred Riepe  11.07.2025

Thüringen

Yiddish Summer startet mit Open-Air-Konzert

Vergangenes Jahr nahmen rund 12.000 Menschen an den mehr als 100 Veranstaltungen teil

 11.07.2025

Musik

Nach Eklat: Hamburg, Stuttgart und Köln sagen Bob-Vylan-Auftritte ab

Nach dem Eklat bei einem britischen Festival mit israelfeindlichen und antisemitischen Aussagen sind mehrere geplante Auftritte des Punk-Duos Bob Vylan in Deutschland abgesagt worden

 10.07.2025

Agententhriller

Wie drei Juden James Bond formten

Ohne Harry Saltzman, Richard Maibaum und Lewis Gilbert wäre Agent 007 möglicherweise nie ins Kino gekommen

von Imanuel Marcus  12.07.2025 Aktualisiert

Kulturkolumne

Bilder, die bleiben

Rudi Weissensteins Foto-Archiv: Was die Druckwelle in Tel Aviv nicht zerstören konnte

von Laura Cazés  10.07.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter  10.07.2025

Ethik

Der Weg zum Glück

Nichts ist so flüchtig wie der Zustand großer Zufriedenheit. Doch es gibt Möglichkeiten, ihn trotzdem immer wieder zu erreichen – und Verhaltensweisen, die das Glück geradezu unmöglich machen

von Shimon Lang  10.07.2025

Essay

Das Jewish-Hollywood-Paradox

Viele Stars mit jüdischen Wurzeln fühlen sich unter Druck: Sie distanzieren sich nicht nur von Israel und seiner Regierung, sondern auch von ihrem Judentum. Wie konnte es so weit kommen?

von Jana Talke  10.07.2025