Sprachgeschichte(n)

Angewandte Schnorrologie

Katzen sind die größten Schnorrer, oder? Foto: Thinkstock

Als »Schnorrer« gilt im Deutschen umgangssprachlich jemand, der auf anderer Leute Kosten lebt oder Menschen ständig um Kleinigkeiten angeht, ohne zu einer Gegenleistung bereit zu sein. Daher mahnt Leo Rosten in der Jiddisch-Enzyklopädie (2002): »Vorsicht! Der Gebrauch dieses Wortes wird sowohl in Amerika als auch in Europa als Beleidigung angesehen.«

Siegmund Andreas Wolf belegt im Wörterbuch des Rotwelschen (1993) den Ausdruck »schnorren gehen« für »betteln gehen« schon ab 1750 und deutet auf den Brauch der Bettelmusikanten, mit einer Schnurrpfeife umherzuziehen. In Goethes 1771 aufgeschriebener Geschichte »Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand« erleben wir, »wie dergleichen Volck schnorrt das ganze Jahr im Land herum«.

Witze Simon Neuberg unterstreicht im Jahrbuch für internationale Germanistik (2007), dass der »Schnorrer« der deutschen Komponente des Jiddischen entstammt – »mit der typischen Vokalsenkung von [u] zu [o] vor [r] + weiterem Konsonanten (oder wie hier vor doppeltem [r]). Dies ist im Mitteldeutschen oft zu verzeichnen und ist auch für das Jiddische typisch (vgl. die standardjiddischen Wörter: dorsht, gorgl, oysvorf, vortsl etc.)«. Das jiddische Substantiv ist sogar ins Iwrit integriert, wo es Basis einer ganzen Wortfamilie wurde.

Während Werner Weinberg in Die Reste des Jüdischdeutschen (1973) »schnorren« zu den Wörtern zählt, »die von Juden als jüdisch empfunden wurden«, hebt besagter Neuberg hervor, »dass der Schnorrer benutzt wird, um einen der Standard-Protagonisten jüdischer Witze zu kennzeichnen«. Ein Beispiel dafür bietet A. Moszkowskis Sammlung Die unsterbliche Kiste. Die 333 besten Witze der Weltlitteratur (1918).

Darin heißt es: »Schnorrer: ›Ich komme in Angelegenheiten einer persönlichen Unterstützung. In Anbetracht meiner prekären Lage und Ihres großen Reichtums spreche ich die bestimmte Erwartung aus, dass Sie jede Anwandlung von Knickerigkeit unterdrücken werden und …‹ – Chef des Hauses: ›Ich muss Sie unterbrechen: In diesem Tone redet man nicht mit mir, wenn man meine Mildtätigkeit anruft.‹ – Schnorrer: ›Na wenn Sie das Schnorren besser verstehen als ich, dann gehen Sie doch schnorren.‹«

wanderschaft Dass Schnorrer im orthodoxen Judentum eine Institution sind, betont auch das Glossar der Züricher Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus unter Verweis auf die historische Situation des 17. Jahrhunderts. Als in antijüdischen Pogromen unter der Führung des Kosakenführers Bohdan Chmelnyzkyj (1595–1657) in Polen Hunderte von jüdischen Gemeinden vernichtet und Tausende Juden keine Existenzgrundlage mehr hatten, gingen sie in Massen nach Westeuropa auf Wanderschaft und baten in jüdischen Gemeinden – auch als Gegenleistung für ihr Angebot, jüdischen Religionsunterreicht zu erteilen – um Unterstützung. »Seit dieser Zeit wird der jiddische Begriff Schnorrer verwendet, um ein charakteristisches Merkmal in der jüdischen Welt zu bezeichnen.«

Mit Blick auf heutige Schnorrer in diesem Sinne, die in der Regel orthodox oder ultraorthodox sind, zumeist aus Israel oder den USA anreisen und wohlhabende jüdische Haushalte um Beistand bitten, heißt es: »In ihrem Selbstverständnis betteln Schnorrer nicht, sondern geben finanziell besser gestellten jüdischen Menschen die Möglichkeit, ihrer religiösen Pflicht nachzukommen.« Sie sind also nicht zu verwechseln mit den sogenannten Betteljuden gegen Ende des 17. Jahrhunderts.

handwerk Das Handwerk des Schnorrens ist übrigens im Roman The King of Schnorrers (1894) von Israel Zangwill amüsant verarbeitet, der auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Darin gerät Manasseh Bueno Barzillai Azevedo da Costa, ein Nachkomme der durch die Inquisition von der Iberischen Halbinsel vertriebenen Sefarden, durch »angewandte Schnorrologie« (wie die Publizistin Pieke Biermann es einmal treffend nannte) mit dem Aschkenasen Joseph Grobstock heftig aneinander – bis zum Happy End, das deutlich macht, warum der Autor als »Dickens der anglojüdischen Literatur« gilt.

Der Autor ist Sprachwissenschaftler und Professor em. am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Hamburg. Zuletzt erschien von ihm » Gauner, Großkotz, kesse

Lola. Deutsch-jiddische Wortgeschichten«. Be.bra, Berlin 2016.

Berlin

Mut im Angesicht des Grauens: »Gerechte unter den Völkern« im Porträt

Das Buch sei »eine Lektion, die uns lehrt, dass es selbst in den dunkelsten Zeiten Menschen gab, die das Gute dem Bösen vorzogen«, heißt es im Vorwort

 17.09.2025

Israel

»The Sea« erhält wichtigsten israelischen Filmpreis

In Reaktion auf die Prämierung des Spielfilms über einen palästinensischen Jungen strich das Kulturministerium das Budget für künftige »Ophir«-Verleihungen

von Ayala Goldmann  17.09.2025

Berlin

»Stärker als die Angst ist das menschliche Herz«

Die Claims Conference präsentiert in einem Bildband 36 Männer und Frauen, die während der Schoa ihr Leben riskierten, um Juden zu retten

von Detlef David Kauschke  17.09.2025

Auszeichnung

Theodor-Wolff-Preis an Journalisten vergeben

Der Theodor-Wolff-Preis erinnert an den langjährigen Chefredakteur des »Berliner Tageblatts«, Theodor Wolff (1868-1943)

 17.09.2025

Los Angeles

Barbra Streisand über Dreh mit Robert Redford: »Pure Freude«

Mit dem Klassiker »The Way We Were« (»So wie wir waren«) brachen die beiden Stars in den 70er-Jahren Millionen Herzen. Nach dem Tod von Redford blickt Hollywood-Ikone Streisand zurück auf den Dreh

von Lukas Dubro  17.09.2025

Kritik

Toni Krahl hat »kein Verständnis« für israelfeindliche Demonstrationen

Was in der Region um Israel passiere, sei ein Drama, das sich über Jahrzehnte entwickelt habe, sagte Krahl

 17.09.2025

Berlin

Für Toleranz, Demokratie: Margot Friedländer Preis vergeben

Es ist die erste Preisverleihung nach dem Tod der Stifterin. Ausgezeichnet wird der Einsatz für die Ideale der im Frühjahr gestorbenen Holocaust-Überlebenden

 17.09.2025

Hochstapler

»Tinder Swindler« in Georgien verhaftet

Der aus der Netflix-Doku bekannte Shimon Hayut wurde auf Antrag von Interpol am Flughafen festgenommen

 16.09.2025

Eurovision Song Contest

Streit um Israel: ESC könnte wichtigen Geldgeber verlieren

RTVE ist einer der fünf größten Geldgeber des Eurovision Song Contest. Umso schwerer wiegt der Beschluss, den der spanische Sender verkündet

 16.09.2025