Literatur

Am Ort, an dem wir recht haben

Jehuda Amichai (1924–2000) Foto: Flash 90

Literatur

Am Ort, an dem wir recht haben

Zum 100. Geburtstag des Jerusalemer Dichters Jehuda Amichai, der aus Unterfranken stammte

von Alexander Kluy  03.05.2024 10:16 Uhr

Domerschulstraße 6, Alfons Kirchner: ermordet 1941. Domerschulstraße 21, Amalie Blum: 1944 in Auschwitz ermordet; Georg Friess: ermordet 1945 in Bergen-Belsen; Ida Lehmann: 1942 ermordet. An sie erinnern in dieser Straße in Würzburg Stolpersteine. Hier stand bis 1938 auch die Hauptsynagoge. Doch an die Menschen aus Hausnummer 13 erinnert nichts.

An dieser Stelle betrieben Mitte der 1920er-Jahre die Gebrüder Pfeuffer, Zwischenhändler in Sachen alles für den Schneiderberuf (außer Stoffe), ihr Geschäft. Ludwig, am 3. Mai 1924 als Sohn des Kaufmanns Friedrich Moritz Pfeuffer geboren, wurde Jahrzehnte später als Jehuda Amichai einer der bekanntesten Lyriker Israels und der Welt.

1936 floh die orthodoxe Großfamilie Pfeuffer aus Nazi-Deutschland. Sie verbrachte einige Monate in Petach Tikwa und ließ sich dann in Jerusalem nieder. Nach dem vorzeitigen Abitur 1942 war Jehuda Amichai, wie er sich ab 1946 nannte, Freiwilliger in der jüdischen Brigade der britischen Armee, war für die Hagana aktiv, schmuggelte Waffen, absolvierte 1946/47 eine Lehrerausbildung und kämpfte im Sommer 1948 in einer Palmach-Einheit. Ab 1950 war er Lehrer an einem Lyzeum in Jerusalem. 1955 erschien sein erster Gedichtband. Bald sollten sich wichtige nationale wie internationale Preise einstellen für Amichais stetig wachsendes Lyrik- und Prosawerk. Nun wurde er zu Festivals eingeladen, trat mit und neben Octavio Paz und Pablo Neruda auf.

1982 wurde ihm der Israel-Preis zugesprochen. Vier Jahre zuvor war Ted Hughesʼ Übersetzung von Amen in den USA ein Bestseller geworden. In Deutschland wurde Amichai erst 1988 entdeckt. Da erschien der Auswahlband Wie schön sind deine Zelte, Jakob unter maßgeblicher Fürsprache des Lyrikers Christoph Meckel. Fünf Jahre später wurde der Jerusalemer aus Unterfranken, der in Würzburg in der jüdischen Schule Hebräisch gelernt hatte und lebenslang Deutsch sprach und schrieb, in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen.

Ein so kurzes Gedicht wie »Die Seele des Menschen« ist eher die Ausnahme in Amichais Œuvre: »Die Seele des Menschen ist / Wie ein Eisenbahnfahrplan / Ein genauer, detaillierter Fahrplan / Von Zügen, die nie fahren werden.« Seine Poesie, mittlerweile in 40 Sprachen übersetzt, ist nie hermetisch, nie künstlich dunkel. Sie ist vielmehr zugänglich, erstaunlich oft fast weise: »Alle Generationen vor mir stifteten mich / Stück für Stück, damit ich hier errichtet werde in Jerusalem.«

Nicht weniges ist pointiert. »Oh meine Worte, traurige, frohe / Nägel meines Lebens« liest man in »Kein Auge sah, kein Ohr hörte«. Und in einem anderen Gedicht heißt es: »Liebe ist Zerreißen, / Sterben, zerrissen werden.« Es geht bei ihm um Sehnsucht, Leben, Erinnern, Gefühle, den Vater und das Diesseits, Historie, Verluste und Weltzugewandtheit: »Ich will wieder eingeschrieben sein / im Buch des Lebens, jeden Tag eingeschrieben / bis die Hand des Schreibenden schmerzt.« Am Ort, an dem wir recht haben, würden nie Blumen wachsen, dieser Ort sei zertrampelt und hart: »Zweifel und Liebe aber / lockern die Welt auf / wie ein Maulwurf, wie ein Pflug. / Und ein Flüstern wird hörbar / an dem Ort, wo das Haus stand, / das zerstört wurde.«

Am 22. September 2000 starb Jehuda Amichai in Jerusalem. In einem Gedicht heißt es: »Den Tod der Feigen stirbt er im Herbst, / verrunzelt und voll seiner selbst und süß, / auf der Erde vertrocknen die Blätter, / die nackten Zweige deuten schon / dahin, wo es Zeit gibt für alles.« Christoph Meckel drückte es so aus: »Das Ich Amichais scheint menschlich und kunstlos offen, eine Gestalt, die gleichsam natürlich handelt – doch die Einfachheit täuscht. Das Ich offenbart ein reiches reales Dasein und die Verwandlung in einen, der Chronik schreibt.« Oder wie Amichai schreibt: »Wind, der wechselnde Zeit ist, und / Geisteswind, der Ort und Gott ist / Bleibt im Land wie ein Mensch, der denkt / Er hätte was vergessen, und solang er sich nicht erinnert, bleibt er.«

Berlin

Mut im Angesicht des Grauens: »Gerechte unter den Völkern« im Porträt

Das Buch sei »eine Lektion, die uns lehrt, dass es selbst in den dunkelsten Zeiten Menschen gab, die das Gute dem Bösen vorzogen«, heißt es im Vorwort

 17.09.2025

Israel

»The Sea« erhält wichtigsten israelischen Filmpreis

In Reaktion auf die Prämierung des Spielfilms über einen palästinensischen Jungen strich das Kulturministerium das Budget für künftige »Ophir«-Verleihungen

von Ayala Goldmann  17.09.2025

Berlin

»Stärker als die Angst ist das menschliche Herz«

Die Claims Conference präsentiert in einem Bildband 36 Männer und Frauen, die während der Schoa ihr Leben riskierten, um Juden zu retten

von Detlef David Kauschke  17.09.2025

Auszeichnung

Theodor-Wolff-Preis an Journalisten vergeben

Der Theodor-Wolff-Preis erinnert an den langjährigen Chefredakteur des »Berliner Tageblatts«, Theodor Wolff (1868-1943)

 17.09.2025

Los Angeles

Barbra Streisand über Dreh mit Robert Redford: »Pure Freude«

Mit dem Klassiker »The Way We Were« (»So wie wir waren«) brachen die beiden Stars in den 70er-Jahren Millionen Herzen. Nach dem Tod von Redford blickt Hollywood-Ikone Streisand zurück auf den Dreh

von Lukas Dubro  17.09.2025

Kritik

Toni Krahl hat »kein Verständnis« für israelfeindliche Demonstrationen

Was in der Region um Israel passiere, sei ein Drama, das sich über Jahrzehnte entwickelt habe, sagte Krahl

 17.09.2025

Berlin

Für Toleranz, Demokratie: Margot Friedländer Preis vergeben

Es ist die erste Preisverleihung nach dem Tod der Stifterin. Ausgezeichnet wird der Einsatz für die Ideale der im Frühjahr gestorbenen Holocaust-Überlebenden

 17.09.2025

Hochstapler

»Tinder Swindler« in Georgien verhaftet

Der aus der Netflix-Doku bekannte Shimon Hayut wurde auf Antrag von Interpol am Flughafen festgenommen

 16.09.2025

Eurovision Song Contest

Streit um Israel: ESC könnte wichtigen Geldgeber verlieren

RTVE ist einer der fünf größten Geldgeber des Eurovision Song Contest. Umso schwerer wiegt der Beschluss, den der spanische Sender verkündet

 16.09.2025