Kulturkolumne

Als Maulwurf gegen die Rechthaberitis

Foto: Getty Images/iStockphoto

Sie ist die deutscheste aller Eigenschaften. Sie nervt so penetrant wie Baerbocks Pochen aufs Völkerrecht, sie ist humorloser als ein Auto-Versicherungsvertrag, und sie tritt vor allem in Talkshows auf, um sich von dort aus pandemisch zu verbreiten. Gemeint ist die Rechthaberitis, die entzündliche Lust, alles besser zu wissen und dies ungehemmt und schamlos zu verbreiten. Im Rechthaben sind wir, frei nach Tucholsky, ungeliebter Klassenprimus.

Rechthaberei kennt nicht die Freude am Austausch unterschiedlicher Sichtweisen. Sie ist eine Art milder Xenophobie. Das Fremde gar nicht erst hineinlassen in Geist und Seele. Ein etwas verschämtes Bekenntnis: Wäre Rechthaberei eine olympische Disziplin, könnte ich mir Hoffnung auf die Nationalmannschaft machen. Mein Mann meinte einmal, seine Frau habe nicht recht, sondern senkrecht. Einer unserer Lieblingscartoons: Ein Mann klagt, seine Frau würde ihn seit 32 Jahren ständig nur verbessern. »Seit 33 Jahren«, belehrt sie ihn.

Das Spielerische, Provisorische geht Vollblut-Rechthabern ab

Das Spielerische, Provisorische geht Vollblut-Rechthabern ab, ebenso wie der sprichwörtlich nagende Zweifel, auf den fantasiebegabte Wesen angewiesen sind, um kreativ zu leben. Im Social-Media-Orbit verteidigen Kommentatoren mit Zähnen und Klauen ihr Rechthaben. Es darf nichts ins Wanken geraten. So festgezurrt sind die Überzeugungen, dass sie bei jedem »Vielleicht« oder einem Fragezeichen Gefahr wittern im Furor ihrer meist folgenlosen Erregtheit.

Eng verbunden ist die Rechthaberitis mit dem Ausruf »Siehste«. Habʼ ich nicht schon 2017 gewarnt, dass Trump ähnlich seinen Kasinos die Weltwirtschaft schrottet? Siehste. Habʼ ich nicht schon vor der Wahl gewarnt, dass die AfD mit der CDU gleichzieht? Siehste. Siehste, wenn das Glas trotz Warnung zu nah am Rand des Tisches steht und runterfällt. Siehste, wenn die Katzʼ nach falschem Futter kotzt. Versuche, dem Gegenentwurf, der toleranten Ambivalenz, mehr Raum zu geben, scheitern oft an der schieren Lust, einmal wieder recht gehabt zu haben und dies mit »Siehste« zu krönen.

Besonders bewusst wurde mir diese Unart im vergangenen Jahr, als die Jüdische Allgemeine den 100. Geburtstag von Yehuda Amichai feierte und ich Der Ort, an dem wir recht haben entdeckte. Jenes Gedicht, das die Richter am Obersten Gerichtshof in Israel anführten, um gegenüber dem abstrakten Recht auch der Menschlichkeit eine Stimme zu verleihen. Es ist in 40 Sprachen übersetzt, und weil es so wahr, so historisch, so klug und so undeutsch ist (Amichai stammt aus Würzburg und hat zeitlebens neben Hebräisch auch Deutsch gesprochen), soll es hier noch einmal, kurz vor Amichais 101. Geburtstag, in seiner ergreifenden Schönheit und Diskretion erstrahlen.

An dem Ort, an dem wir recht haben,
werden niemals Blumen wachsen
im Frühjahr.
Der Ort, an dem wir recht haben,
ist zertrampelt und hart
wie ein Hof.
Zweifel und Liebe aber
lockern die Welt auf
wie ein Maulwurf, wie ein Pflug.
Und ein Flüstern wird hörbar
an dem Ort, wo das Haus stand,
das zerstört wurde.

Als kleiner Maulwurf die Überzeugungen entkrampfen und als Pflug arbeiten im harten Kasernenhof der Rechthaberei. Zweifeln statt Gewissheit verströmen. Fragen stellen statt Antworten forcieren. Meine Pessach-Oster-Vorsätze. Dann blühen die Blumen, die Stimmung lockert sich auf. Zeit für den Frühling drum herum und in der Seele.

Musik

Louis-Lewandowski-Festival hat begonnen

Der Komponist Louis Lewandowski hat im 19. Jahrhundert die jüdische Synagogenmusik reformiert. Daran erinnert bis Sonntag auch dieses Jahr ein kleines Festival

 18.12.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Bettina Piper, Imanuel Marcus  18.12.2025

Ausstellung

Pigmente und Weltbilder

Mit »Schwarze Juden, Weiße Juden« stellt das Jüdische Museum Wien rassistische und antirassistische Stereotype gleichermaßen infrage

von Tobias Kühn  18.12.2025

Kulturkolumne

Vom Nova-Festival zum Bondi Beach

Warum ich keine Gewaltszenen auf Instagram teile, sondern Posts von israelischen Künstlern oder Illustratorinnen

von Laura Cazés  18.12.2025

Neuerscheinung

Mit Emre und Marie Chanukka feiern

Ein Pixi-Buch erzählt von einem jüdischen Jungen, der durch religiöse Feiertage Verständnis und Offenheit lernt

von Nicole Dreyfus  18.12.2025

Zahl der Woche

1437

Funfacts & Wissenswertes

 18.12.2025

Revision

Melanie Müller wehrt sich gegen Urteil zu Hitlergruß

Melanie Müller steht erneut vor Gericht: Die Schlagersängerin wehrt sich gegen das Urteil wegen Zeigens des Hitlergrußes und Drogenbesitzes. Was bisher bekannt ist

 18.12.2025

Gastbeitrag

Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum schweigt ihr?

Jan Grabowski fragt die deutschen Historiker, warum sie es unwidersprochen stehen lassen, wenn ein Holocaust-Experte für seine Forschungsarbeit diskreditiert wird

von Jan Grabowski  18.12.2025

Los Angeles

Rob und Michele Reiner: Todesursache steht fest

Ihre multiplen Verletzungen seien durch Gewalteinwirkung entstanden, so die Gerichtsmedizin

 18.12.2025