Ausstellung

Alles über Sex

»Das Jüdische Museum Berlin. Nicht das, was Sie erwarten« war der Claim einer Werbekampagne vor zwölf Jahren. Da kroch anstatt Zahnpasta eine Raupe aus der Tube, und das Innere eines gefällten Baumes war eine Salami … apropos Salami: Die aktuelle Ausstellung im Daniel-Libeskind-Bau heißt Sex. Jüdische Positionen und ist definitiv etwas Unerwartetes. Und dazu ein großer, schlauer Spaß.

In vier Kapiteln erzählt die großzügig angelegte Schau, die bis zum 6. Oktober zum Überraschtwerden einlädt, von Pflicht und Vergnügen, Kontrolle und Begehren, Sexualität und Macht und auch von Erotik und dem Göttlichen. Tatsächlich versammelt die Kooperation des Berliner Jüdischen Museums und seines Pendants in Amsterdam einfach alles, was Sie schon immer über (jüdischen) Sex wissen wollten – oder auch nicht –, angefangen mit Woody Allens Rabbi aus besagtem Film, der es liebt, zuerst gefesselt und dann versohlt zu werden, während seine Frau Schweinefleisch isst, bis zur halachischen Fortpflanzungsberatung im Iggeret Hakodesch, dem kabbalistischen »heiligen Brief« aus dem 13. Jahrhundert.

Mal aufregend, mal gedankentreibend, mal berührend

Jede Ecke, um die der Ausstellungsbesucher biegt, enthüllt Neues, mal aufregend, mal gedankentreibend, mal berührend, egal ob in Wort oder Bild, wie das großformatige Selbstporträt der transsexuellen Künstlerin Roey Victoria Heifetz, die den besonders fragilen und schmerzhaften Moment des Dazwischen mit festen Bleistiftstrichen festgehalten hat. Oder anzüglich-witzig wie Dr. Ruth’s »Game of good Sex«-Brettspiel aus dem Jahr 1985 von der gefeierten Sexualtherapeutin Ruth Westheimer.

Oder offenbarend wie ein riesiger papierner Beschneidungsschild-Cut-Out, der plötzlich die förmliche Ähnlichkeit zur Vagina sichtbar macht. Es gehe darum, die Distanz aufzulösen, sagt der Künstler Ken Goldman, der neben dem Cut-Out noch mit zwei weiteren Kunstwerken vertreten ist. Jedes davon ändert den Blickwinkel mit einer befreienden Leichtigkeit. »Wenn Menschen am Anfang nicht lachen, habe ich etwas falsch gemacht«, so Goldman.

Wunderbar sind immer wieder die Zitate, die zu Beginn jedes neuen Kapitels für laute Lacher oder auch versunkenes Nicken sorgen, sei es Betty Friedans »Keine Frau bekommt vom Putzen des Küchenbodens einen Orgasmus« oder Isaac Bashevis Singers »Die Geschlechtsorgane sind die empfindlichsten Organe des Menschen. Sie kennen keine Diplomatie. Sie sagen schonungslos die Wahrheit« oder eben der Sohar über das sinnliche Hohelied: »Der Tag, an dem dieses Lied offenbart wurde, kam die Schechina auf die Erde herab.« Auch Rabbi Akiva war betört: »Alle Schriften sind heilig, aber das Lied der Lieder ist das Allerheiligste.«

Die jüdische Beschäftigung mit Sex ist so alt wie Religion! Und selbst in den ältesten Schriften hat Sex etwas Offenes, beide Seiten Achtendes. Ja, natürlich war gleichgeschlechtliche Liebe oder unverheirateter Sex nicht vorgesehen, aber das Schöne am Judentum ist die konstante Diskussion und Auslegung, die Verhandlung mit den Realitäten, der Wandel. So wie in dieser Ausstellung.

»Keine Frau bekommt vom Putzen des Küchenbodens einen Orgasmus.«

Betty Friedan

Deshalb hängt auch eine »Ketubata« an der Wand für die egalitäre Brit-Ahuvim-Zeremonie. Deshalb zeigt ein Video, wie eine orthodoxe Familie ihren Trans-Sohn umarmt. Und deshalb dürfen jüdische Frauen über ihre Körper bestimmen. So ganz anders als heute im ehemals modernen Amerika.

Reise zwischen den Geschlechtern

»Die Welt wird regiert vom männlichen Blick«, sagt Heifetz. Dabei gehe es doch immer um die Perspektive. »Wir reisen zwischen den Geschlechtern, jeder von uns. Manche mehr, manche weniger. Aber die Gesellschaft versucht, uns den Weg vorzugeben. Und verrückterweise merkt sie meist schon, was mit uns los ist, bevor wir es tun«, sagt die Frau mit dem sanften Blick, der so viel mehr sieht als die meisten von uns. Den Wandel ihres männlichen Körpers zu einem weiblichen vergleicht sie mit dem Bild des »wandernden Juden«, was sich im Englischen so viel besser anhört, weil es auch nach »wondering« klingt: wissbegieriger, neugieriger Jude.

Wenn man sich auf diese Ausstellung einlässt, wenn man Kopf und Herz öffnet, kann man reichlich mitnehmen, vielleicht sogar neue Gefühle, die dieses Prisma an Möglichkeiten und Sichtweisen in den buntesten Farben im Raum verteilt wie das gestrickte »Tumtum« des israelischen Künstlers Gil Yefman im Glashof, das einfach alles zugleich ist.

Diese Sex-Show verströmt vor allem eines: Liebe. Aber darum soll es beim Sex ja auch gehen. Mehr davon!

Die Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin läuft bis zum 6. Oktober.

Hans-Jürgen Papier

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