Manès Sperber

Der Abtrünnige

Die Autobiografie des Jahrhundertzeugen ist in einer kommentierten Ausgabe endlich wieder neu erschienen

von Marko Martin  05.02.2024 10:41 Uhr

Der Psychologe und Schriftsteller Manès Sperber (1905–1984) wurde in Galizien geboren und wuchs in der Tradition des Chassidismus auf. Foto: picture alliance / brandstaetter images/Votava

Die Autobiografie des Jahrhundertzeugen ist in einer kommentierten Ausgabe endlich wieder neu erschienen

von Marko Martin  05.02.2024 10:41 Uhr

Als Anfang der 80er-Jahre der 1976 aus der DDR ausgebürgerte Wolf Biermann in Paris den über drei Jahrzehnte älteren Schriftsteller und Individualpsychologen Manès Sperber trifft, zögert dieser nicht lang. »Wie ein guter Zahnarzt«, so Biermann später in seiner Autobiografie, habe ihm Sperber einen seit Langem toten Zahn gezogen – sprich: ihn von der längst anachronistisch gewordenen Selbstwahrnehmung als »Kommunist« geheilt. Weshalb nämlich sollte ein unorthodoxer Linker und freier Mensch weiterhin solch verbalen Ballast mit sich herumschleppen?

Sperber, 1905 im ostgalizischen Zablotów geboren, wusste, wovon er sprach: Zusammen mit seinem Kollegenfreund Arthur Koestler war er der wohl bekannteste Abtrünnige vom kommunistischen Dogma, dabei jedoch alles andere als ein eifernder Renegat.

Mammutwerk nicht nur für Spezialisten

Inzwischen sind die berühmten drei Bände Erinnerungsprosa dieses reflektierten Dissidenten endlich wieder vollständig erhältlich: Unter dem Titel All das Vergangene … finden sich Sperbers Bücher Die Wasserträger Gottes, Die vergebliche Warnung und Bis man mir Scherben auf die Augen legt in einem präzise, aber nicht überbordend kommentierten, fast 700-seitigen Band zusammengefasst. Das Herausgeber-Team Mirjana Stancic und Wolfgang Müller-Funk hat es bei ebenso konzisen Nachbemerkungen belassen, sodass realistisch zu hoffen ist, dass dieses Mammutwerk nicht nur für Spezialisten von Interesse ist.

Hinter dem Schtetl stieg er als Kind auf einen Hügel und hielt Ausschau nach dem Messias.

Denn wie packend und gleichzeitig nicht-manipulativ ist Sperbers Sprache! Ohne je in die Selbstmystifizierung seines Schriftsteller-Freundes und Résistance-Kameraden André Malraux zu verfallen, schichtet er wie ein guter Baumeister Satz an Satz; nahezu jeder ein Meisterwerk in Analyse und Anschaulichkeit. Literarisch-stilistisch ist dies ebenso bemerkenswert wie ethisch und moralisch: Hier wird keine Ich-zentrierte Heldengeschichte erzählt, sondern ein vielfarbiges Jahrhundert-Panorama entsteht – Landschaften, Städte, Parteien, Menschen, Gesinnungen und Emotionen, die ebenso vom Zusammenbrechen von Staaten und Ideologien berichten wie vom Zweifel des Einzelnen.

Eine der ersten Erinnerungen gilt seiner Kindheit: Als Junge war er einst auf einen Hügel hinter dem jüdischen Schtetl gestiegen und hatte nach dem Kommen des Messias Ausschau gehalten. War denn da keiner, der Schutz böte vor zaristischer Unterdrückung? Wenig später warf er vom Dach des elterlichen Wohnhauses sogar Kieselsteine gen Himmel, da von dort weiterhin nichts kam als eisiger Wind und Schweigen.

Aufrüher und Hinterfrager des scheinbar Unhinterfragbaren

Manès Sperber, am 5. Februar 1984 in Paris gestorben, blieb sein Leben lang ein solcher Aufrührer und Hinterfrager des scheinbar Unhinterfragbaren. 1916 mit der Familie nach Wien geflüchtet, hatte er die Schrecken des Ersten Weltkriegs wie auch den Untergang des k. u. k Reichs und die anschließende Fragilität der österreichischen Zwischenkriegsdemokratie aus eigener Anschauung erfahren.

Aus Idealis­mus schloss er sich später den Kommunisten an, entdeckte als junger Mann die Individualpsychologie Alfred Adlers, brach aber dann mit dem bewunderten Lehrer. Die neue Wissenschaft schien ihm, dem seit 1927 in Berlin wohnhaften ungeduldigen Marxisten, viel zu indifferent gegenüber der Realität fortgesetzter ökonomischer Ungerechtigkeit. Während die Parteitreuen barsch jegliche Reflexion über das Psychologische ablehnten und auf ihrem Weg zum imaginierten »Neuen Menschen« lieber dem Genossen Stalin folgten.

Unter dem Eindruck der Moskauer Schauprozesse brach er mit der KPD.

Anfang 1933 wird der vorerst dennoch loyale Kommunist Manès Sperber in Berlin-Wilmersdorf von der Gestapo verhaftet und, da offiziell österreichischer Staatsbürger, nach einem Monat Kerkeraufenthalt aus Deutschland ausgewiesen. Es folgen Exilstationen in Jugoslawien und in Paris, wo es schließlich 1937, nicht zuletzt unter dem Eindruck der mörderischen Moskauer Schauprozesse, zu Sperbers offiziellem Bruch mit der KPD kommt.

Was für eine existenzielle Herausforderung: Wie – als Essayist, mittelloser Emigrant und besorgter Familienvater – überleben, wenn um einen gerade alles zusammenbricht? Sperber, von seinen einstigen kommunistischen Genossen nun als Feind betrachtet und gleichzeitig weiterhin im Visier der Nazis, schließt sich nach dem deutschen Einmarsch 1940 als Freiwilliger der französischen Armee an – und wird dort von den hiesigen Rechten als linker Jude ebenso scheel beäugt wie von den moskautreuen Kommunisten. Nach der Niederlage taucht er in Südfrankreich unter und fährt fort zu schreiben: Nichts solle verloren gehen. Unter großem Risiko gelingt schließlich die Flucht in die Schweiz, wo Sperber seine Frau Jenka und den kleinen Sohn Dan wiedertrifft.

Das Nachkriegs-Engagement des polyglotten Intellektuellen, der danach in Paris an der Seite des Soziologen Raymond Aron zu einem der wichtigsten Vertreter des diktaturkritischen Antitotalitarismus wird, ist dann am Ende dieses Memoirenwerks fast ein Appendix. Für seine zahlreichen weiteren Bücher und Romane erhielt er den Georg-Büchner-Preis und kurz vor seinem Tod den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Möge dieser skrupulöse Ausnahme-Intellektuelle wieder gelesen oder von einer jüngeren Generation womöglich erst entdeckt werden.

Manès Sperber: »All das Vergangene …«. Ausgewählte Werke Band 1. Herausgegeben von Mirjana Stancic und Wolfgang Müller-Funk. Sonderzahl, Wien 2023, 691 S., 44 €

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