Philosophie

Absolutes Gehör für Prosa

Der FAZ-Redakteur Lorenz Jäger legt eine konservativ-kritische Biografie Walter Benjamins vor

von Harald Loch  06.06.2017 13:04 Uhr

Walter Benjamin (1892–1940) Foto: imago

Der FAZ-Redakteur Lorenz Jäger legt eine konservativ-kritische Biografie Walter Benjamins vor

von Harald Loch  06.06.2017 13:04 Uhr

Sind wir Zeit?» – die Frage stellt Walter Benjamin schon am Anfang seiner schriftstellerischen Tätigkeit. «Sind wir Zeit?» – diese Frage stellt Lorenz Jäger ans Ende seiner Biografie über den «unvollendet» gebliebenen Philosophen, Kritiker und Soziologen. Diese unverständliche Frage enthält die Antwort selbst – jedenfalls im Leben des 1892 in Berlin Geborenen, der diesem Leben auf der Flucht vor den Nazis in den Pyrenäen am 26. September 1940 selbst ein Ende setzte.

Benjamins jüdische Identität, eingebettet in eine verzweigte jüdische Familie und von jüdischen Freunden immer wieder neu inspiriert, und seine deutsche Verstrickung in die Katastrophen der ersten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts, seine nicht frömmelnde Religiosität und sein Interesse an der die menschliche Existenz mitbestimmenden dinglichen Welt der Materie erscheinen in der Biografie Jägers mal wie eine untrennbare Einheit, mal wie etwas vollkommen Unvereinbares: «So stand es um Benjamin: Seine Metaphysik hatte von vornherein die ... starke Tendenz, in einen eigentümlichen Materialismus der ›Dinge‹ zu kippen – und sein Messianismus war seltsam verbunden mit innerweltlichen, säkularen Glückshoffnungen. Die Bahn dieses Kippens zu beschreiben, heißt Benjamins Philosophie verstehen.»

Gershom Scholem Wer die sehr konservativ-kritische Adorno-Biografie von Jäger kennt, ist gespannt, wie er es mit Benjamin hält. Die Erwartungen werden nicht enttäuscht. Benjamins marxistische Grundfärbung kann seinem Biografen nicht gefallen – er nennt ihn wiederholt einen Bolschewisten. Andererseits hebt er die enge freundschaftliche Beziehung zu Gershom Scholem hervor, dem Benjamin zwar – leider, bedenkt man sein Ende – nicht nach Israel gefolgt ist, mit dem er aber über das Jüdischsein vor allem in Deutschland einen tief empfundenen Austausch pflegte.

Den politischen Irritationen eines von den Nazis verfolgten deutschen Juden, der im Sozialismus und in der vorherrschenden Macht dieser Todfeinde des Faschismus Rettung sah, dann aber nach dem Hitler-Stalin-Pakt und der Schwäche des Westens verzweifeln musste, kann Jäger nur in der Attitüde des allwissenden Antikommunisten begegnen. Benjamins Möglichkeit, Antistalinist zu sein, ohne Häretiker wie Arthur Koestler oder Manès Sperber zu werden, wurde ihm durch sein Schicksal abgeschnitten. Jäger kommt in seiner fiktiven kurzen Überlegung, wie es mit Benjamin ohne seinen Freitod hätte weitergehen können, gar nicht auf einen solchen Gedanken.

Andererseits schätzt Jäger die literarische Dimension von Benjamins Arbeiten: «Wenn Adornos Idiom unverkennbar manieriert anmutet, wofür die leichte Parodierbarkeit ein Beweis ist, so schrieb Benjamin in seinen besten Momenten ein klassisches Deutsch eigener Prägung, das oft geradezu klingt, als habe er diese vollendete Diktion allererst erfunden.» Jäger bewundert das «absolute Gehör für Prosa», das Benjamin herausbildete.

Lebenslauf
«Das Leben eines Unvollendeten», wie der Untertitel des Buches lautet, ist keine klassische Biografie, obwohl sie im Großen und Ganzen chronologisch aufgebaut ist. Begegnet Jäger beim Nachzeichnen des Lebenslaufs Personen, die für Benjamin wichtig werden, flicht er kleine biografische Essays über sie ein. Das zeugt von Bildung und erzeugt Übersicht. Auf diese Weise begegnet der Leser Hannah Arendt, die in erster Ehe mit Benjamins Cousin verheiratet war, Adorno und Kracauer, Brecht und Scholem, Franz Hessel, mit dem er Proust übersetzte, und Hofmannsthal, seiner Cousine Gertrud Colmar und der Frau seines Bruders, Hilde Benjamin.

Hauptsächlich aber folgt die Struktur des Buches den Werken Benjamins. Jäger liest sie aus seiner entgegengesetzten Perspektive, manchmal ohne das Bemühen um Verständnis. Oft aber ist gerade dieser kritische Blick notwendig und gewinnbringend. Gekonnt verschränkt Jäger seine Besprechung der Auseinandersetzung Benjamins mit Goethes Wahlverwandtschaften mit dem persönlichen Erlebnis der – wie man es in der Wirtschaft nennen würde – «Überkreuzverflechtung» zweier Paare.

Insgesamt entsteht ein – wenn auch nicht liebevoll-empathisches, so doch voller Respekt und manchmal auch Bewunderung gezeichnetes – inhaltsreiches Porträt dieses immer wieder zu entdeckenden deutsch-jüdischen Denkers.

Lorenz Jäger: «Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten». Rowohlt Berlin, Berlin 2017, 398 S., 26,95 €

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