München

400 Jahre, 14 Generationen

Gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen nach 1945: Dagmar Nick Foto: Christian Rudnik

»Da, ganz unten, das bin ich«, sagt Dagmar Nick. Ihr Name – in kleinster, akkurater Handschrift notiert – findet gerade noch Platz am unteren Rand des großen Papierbogens. Darüber wächst ein weitverzweigter Familienbaum, der einfach nicht aufhören will, sich weiter und weiter zu verästeln.

Dagmar Nick ist 92 Jahre alt. Sie ist eine sehr feine, sehr zarte Dame, der man ihr Alter kaum glauben mag. Sie ist eine der wichtigsten deutschsprachigen Lyrikerinnen nach 1945, mit unzähligen Preisen ausgezeichnet, in vielen Anthologien vertreten, daneben natürlich präsent durch eigene Gedichtbände und Reisebücher – einige davon über Israel. Und dann ist da noch das »jüdische Familienbuch«.

Dagmar Nick wohnt nicht direkt an dem kilometerlangen Prachtkanal, der aufs Münchner Nymphenburger Schloss zuläuft, als gälte es, etwas zu beweisen. Die 92-Jährige wohnt ein paar Schritte davon entfernt, dort, wo die Bäume wieder wachsen dürfen, wie sie wollen, an einer »Fahrradstraße«.

Die Mutter schenkte ihr von
ihren 2000 Mark Wiedergutmachung
eine Reise nach Israel.

Dagmar Nick, ganz Dichterin, hält für diese Verkehrsbezeichnung andere Worte bereit. »Hier radeln Mädchen noch nebeneinander her und plaudern miteinander«, sagt sie und holt mit dieser Art von Bemerkungen eine gepflegte Stimmung in den ruhigen Raum, in dem alles seinen Platz hat, nichts schief liegt, steht oder hängt, wo sich im Bücherregal diszipliniert die mehrbändigen, 1000-seitigen Nachschlagewerke aneinanderreihen. In der Mitte steht ein schwarzes Klavier.

BRESLAU Nur auf dem Sofa beim Tisch, um den man sitzt, erlauben sich Zettel, Unterlagen, Ordner ein kleines wildes Durcheinander, geben ein Bild dessen ab, womit Dagmar Nick im gut gemeinten Wortsinn »nicht fertig« wird. »Meiner jüdischen Familiengeschichte nachzugehen, war mir ein Genuss, nichts als ein Genuss«, wird sie später sagen.

Dagmar Nick wurde 1926 als zweites Kind des Komponisten, Dirigenten und Musikkritikers Edmund Nick und der Sängerin Kaete Jaenicke, einer Frau aus gutem jüdischen Hause, in Breslau geboren. Damit galt das Mädchen unter den Nazis als »Mischling«. »Es gab da trotzdem eine heile Welt«, beschreibt sie diese Zeit, »und die war innen.« Das hätten die Eltern mit Musik, Humor und Liebe irgendwie hinbekommen. »Aber draußen, draußen war die Welt bedrohlich. In dem Moment, in dem man hinausging, musste man den Mund halten – das hatten wir Kinder verstanden.«

Bis heute kann sie sich darüber wundern, dass es in dieser entmenschlichten Welt immer wieder Nationalsozialisten gegeben hat, die »aus welchem Grund auch immer« und sehr wohl um die jüdische Seite der Familie wissend, dafür sorgten, »dass es irgendwie weitergegangen ist«. »Der Vater durfte dann wieder für eine Zeit lang dirigieren oder sonst etwas machen, natürlich ohne Angabe seines Namens, solange eben, bis das nächste Verbot kam.«

GRAFOLOGIN Die Familie zieht von Breslau nach Berlin. Dagmar wird eingeschult. Sie bekommt jedoch Tuberkulose, muss sechs Jahre lang liegen – »umringt von vielen Büchern«. Ein Jahr davon verbringt sie im Krankenhaus, »bis mir ein Arzt ins Gesicht sagte: ›Für einen Mischling wie dich haben wir hier kein Bett mehr frei‹.«

Um dennoch im Krankenhaus bleiben zu können, arbeitet Dagmar Nick im Labor mit. Ein Studium ist ihr ja verboten. Ende 1943 wird die Berliner Unterkunft der Familie von einer Bombe getroffen. Die Nicks fliehen nach Böhmen, von da aus weiter ins bayerische Lenggries zur Verwandtschaft.

Dort arrangiert die Mutter ein Treffen mit einer »berühmten Grafologin«, die sich ebenfalls aus Berlin nach Bayern gerettet hat. »Sie kam zu uns und prüfte meinen Reifezustand. Ich musste mich zu ihr an den Tisch setzen. Auf dem lag eine klein karierte Tischdecke. Die lag ein bisschen schief, woraufhin ich sie erst einmal zurecht zog. Damit hatte ich bei der Dame gewonnen, hatte meinen Blick für Abweichungen unter Beweis gestellt«, erzählt Dagmar Nick.

Der Bruder, der im letzten Moment – Mischling hin oder her – eingezogen wurde, kommt aus dem Krieg nicht wieder zurück, gilt als »verschollen«. »Am 3. März 1945 hatte er uns noch geschrieben: ›Wir sehen die Russen uns direkt gegenüber, und ich weiß nicht, ob ich hier wieder herauskomme‹.« Die Mutter ist gebrochen, und das Leben holpert weiter.

Ihr Gedicht »Flucht«
erschien 1945 – Erich Kästner
hatte es veröffentlicht.

Nächste Station ist München. Dagmar Nick beurteilt Handschriften. »Da bewerben sich also 20 Sekretärinnen für einen guten Job, ich gucke mir deren Handschriften an und sage, also 15 davon fallen schon mal weg, die dazugehörigen Damen sind weder zuverlässig noch besonders klug.« Auch das Bayerische Staatsministerium kann Nicks Dienste gebrauchen. Und was sagt sie, die bald selbst zur »Schreiberin« wird, zu den Handschriften von Berühmtheiten – Schriftstellern, Dichtern, Philosophen?

»Wissen Sie, Rilke, Kästner – die Großen, die schreiben wie Schulbuben, richtig unoriginell. Tja, Genie lässt sich an der Schrift tatsächlich nicht festmachen. Da scheint es Grenzen zu geben.« Erich Kästner ist Dagmar Nick häufiger begegnet. Ihr Vater kannte den Schriftsteller sogar sehr gut, sie waren Freunde: Beide wohnten in der Münchner Pension Dollmann, in der nach dem Krieg Flüchtlinge unterkamen.

VERSE Erich Kästner leitete damals das Feuilleton der Münchner »Die Neue Zeitung«, der Vater schrieb dort Musikkritiken und brachte eines Tages Gedichte seiner Tochter mit. »Guck dir das mal an.« Kästner nimmt Dagmar Nicks Gedicht »Flucht« ins Blatt, Verse voller vorantreibender Reime und Gefühle, die unter die Haut gehen: »Weiter. Weiter. Drüben schreit ein Kind. / Laß es liegen, es ist halb zerrissen. / Häuser schwanken müde wie Kulissen / durch den Wind.« Da war Dagmar 19 Jahre alt. »Die Neue Zeitung« hatte eine Startauflage von zwei Millionen, »und so flatterte mein Gedicht also durch ganz Deutschland«. Mit 21 Jahren kam der erste Preis. Heute besitzt Dagmar Nick unzählige Preise für ihre Lyrik, die ihre Israel-Bücher aus den 60er- und 70er-Jahren fast vergessen machen, geschrieben in einer so klaren wie schöpferischen Sprache, zwischen den Textseiten Schwarz-Weiß-Fotografien, grobkörnig, stimmungsvoll.

Unter der Rubrik »Landeskunde« konnte man diese Art Bücher damals in den Regalen finden, geeignet, die ersten jungen Deutschen für diesen oder jenen Kibbuz zu begeistern. Voller Liebe fürs Land waren ihre Bücher. »Immer wieder und immer kehre ich heim«, heißt es in einem Gedicht von Dagmar Nick aus den 60er-Jahren.

Dorthin, nach Israel, heimgekehrt ist sie etwa mit ihrem zweiten und auch dem dritten Ehemann, lebte dort, bevor das Paar später wieder zurück nach München ging, über vier Jahre lang. Dagmar Nick kommt beim Erinnern ins Schwärmen. »Ich wollte einfach nach Israel, meine jüdischen Wurzeln sehen, schmecken, riechen, genießen, und dann bin ich hingegangen und war hin und weg von der Landschaft, der Luft, auch der Hitze. Endlich habe ich einmal nicht mehr gefroren.«

RESTITUTION Die Mutter hatte ihr die erste Reise ins Sehnsuchtsland geschenkt, von ihrer Wiedergutmachung. »Das waren so 2000 Mark gewesen.« Hebräisch hat sie nie gelernt. War auch nicht nötig, »bei all den Deutschen dort«. »Eyn Khashmal« – kein Strom – konnte sie verstehen und »Rega, rega« – Moment mal.

Auch heute würde Dagmar Nick sehr gerne einmal wieder nach Israel reisen, »aber ich weiß auch, dass das sehr anstrengend ist«. Seit die Lyrikerin vor drei Jahren in ihrem »jüdischen Familienbuch« Eingefangene Schatten die Geschichte ihrer Vorfahren aufblätterte, ist in dieser Sache an ein Ende nicht zu denken. 400 Jahre, 14 Generationen. Leute aus der ganzen Welt schreiben ihr: »Sehr verehrte Frau Nick, liebe Cousine 5. Grades«.

Da hängen Namen an den Ästen dieses imposanten Familiengewächses wie Heinrich Heine, Karl Wolfskehl, Theodor Lessing, Carl Sternheim, Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin, Günter Anders.

Allein vier Nobelpreisträger finden sich darunter, »aber alle nur eingeheiratet, nicht direkt verwandt; die haben sich also einfach gerne unsere klugen Mädchen genommen«, sagt Nick. Der Historiker Fritz Stern ist ein Cousin zweiten Grades, im selben Jahr geboren wie sie, ebenfalls in Breslau. »Wir kannten uns gut. Haben uns oft gesehen. Viel geredet haben wir nicht. Seine Familie war mehr so naturwissenschaftlich, meine ganz und gar musisch.«

Mit ihrem ersten Mann hat Dagmar Nick in den 50er-Jahren Bergen-Belsen besucht. »Kein Hinweis auf irgendetwas, die Leute in den Kneipen wissen auch nichts, wir suchen, finden einen Schotterweg und eine Wiese voller roter Fliegenpilze. Das war so umwerfend. Das zerschmetterte mich so.«

Fritz Stern ist ein
Cousin zweiten Grades.

In ihrem Gedicht von damals »Belsen 1954« heißt es: »Ihr Toten von Belsen, / ihr tausendmal Toten, / die ihr noch toter seid, / als die Toten der Kriege, / ohne Ruhm, ohne Siege ...«. Und weiter heißt es: »Denn das ist Belsen: / verleugnet, vergessen«. Der Vater bringt das Gedicht zum Westdeutschen Rundfunk. Werner Höfer lehnt ab, so etwas gehe nicht, zumal Adenauer Schirmherr der Gedenkstätte sei.

ALTER Dem letzten Gedichtband, ganz frisch noch und auf edelstes Papier gedruckt, ging ein Herzinfarkt voraus. Abtrünniges Herz sein Titel, »Mein zum Sterben entschlossenes Herz, / noch halte ich dich an der Longe« lauten zwei Verse daraus. Dagmar Nick schreibt mit Bleistift ein paar nette Zeilen als Widmung hinein. »Sehen Sie mal!«, ruft sie aufgeregt. »Gucken Sie sich das an! Meine Zeilen ziehen etwas nach oben rechts. Und wissen Sie auch, was das bedeutet? Das bedeutet, dass ich langsam alt werde!«

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