Litauen

Wo der Gaon zu Hause war

Es sei heiß gewesen, sagt Martynas Uzpelkis, »manchmal viel zu heiß, um die spektakulären Ausgrabungen in Vilnius zu begleiten«. Deshalb habe er sich meist schon in aller Frühe auf den Weg gemacht, um keinen Spatenstich zu versäumen. Martynas Uzpelkis ist Denkmalschützer und betreut die jüdische Gemeinde Litauens. In diesem Sommer war er Zeuge, wie die ersten Fundamente der Großen Synagoge von Wilna im Zentrum der litauischen Hauptstadt Vilnius freigelegt wurden. Erstmals habe er Geschichte ganz hautnah erlebt, sagt Martynas. »Mir wurde plötzlich bewusst, dass diese Stadt einmal das Jerusalem des Ostens gewesen ist.«

Ruine Die Große Synagoge von Wilna war vor dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht die größte Synagoge Litauens. Im Krieg zerstört, musste ihre Ruine im Sozialismus dem Bau einer Grundschule weichen. Litauen war Sowjetrepublik, und der Holocaust wurde von den Kommunisten öffentlich nicht thematisiert.

Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Vor 25 Jahren erlangte Litauen seine Unabhängigkeit. Der demokratische Staat gehört zur EU und ist um eine Aufarbeitung der Geschichte jüdischen Lebens im Land bemüht.

Das war genau das richtige Klima für Jon Seligman aus Jerusalem, um aktiv zu werden. Dort, wo die litauischen Kinder während der Schulpausen ihre Brote essen, setzte der Archäologe in den Sommerferien den Spaten an. Im Auftrag der israelischen Altertumsbehörde und unter Federführung seiner litauischen Kollegen vom Institut für Geschichte legte er Mauerreste frei und befreite sie mit einem Pinsel von Erdbrocken und Sand.

»Weil nur wenige Synagogen den Holocaust in Litauen überlebt haben, ist es geradezu meine Pflicht, die Erinnerung an die jüdische Kultur in diesem Land wachzurufen«, sagt Seligman. Die prächtige Große Synagoge von Wilna sei nicht nur die geistige und physische Heimat des Gaon von Wilna gewesen, sondern das wichtigste Bauwerk des litauischen Judentums überhaupt, fügt er hinzu. »Unsere Ausgrabungen, die gemeinsame Arbeit von Archäologen, Historikern und Architekten, bieten uns außerdem die Möglichkeit, mehr über die Strukturen des umgebenden ›Schulhoyfs‹ zu lernen.«

Finanzierung Ganz ohne Hindernisse hat das Projekt allerdings nicht begonnen. Seligman verrät, dass er die Vorarbeiten vor einem Jahr gar aus eigener Tasche mitfinanzieren musste, da der Zuschuss vom US State Department nicht ausreichend war. In diesem Jahr konnte Seligman nicht nur zahlreiche Geldgeber für die Ausgrabung gewinnen, sondern amerikanische Universitäten kamen mit ins Boot, schickten zwei Professoren, und es reisten Freiwillige aus Israel, den USA und ganz Litauen an.

Seligman gerät geradezu ins Schwärmen, wenn er über die Suche nach der Mikwe, dem rituellen Badehaus der Großen Synagoge, und dem »Schulhoyf« berichtet. Innerhalb einer Stunde seien die Archäologen auf die ersten Überreste gestoßen, sagt er. Neben Mauerziegeln hätten sie Hunderte kleiner Stücke von Ofenkacheln freigelegt, die für das 18. und 19. Jahrhundert so typisch gewesen seien. »Das war deshalb so aufregend für mich, weil die Große Synagoge von Wilna ein wichtiger Bestandteil des Lebens meiner eigenen Vorfahren gewesen ist«, sagt Seligman.

Knapp einen Monat lang hat der Archäologe in Vilnius nach den Überresten gesucht – Hand in Hand mit seinem Kollegen Mantas Daubaras, der dieses erste internationale Ausgrabungsprojekt in Litauen leitet. Er freue sich, sagt Daubaras, dass er beweisen kann, welche archäologischen Schätze unter litauischer Erde schlummern. Ein großes Ziel hätten sie in diesem Jahr allerdings noch nicht erreicht, gibt er zu: »Wir haben gehofft, auf historische Wasserleitungen zu stoßen, die für das rituelle Bad einst verlegt worden sind. Leider erfolglos. Warten wir also auf den nächsten Sommer.«

Tatsächlich sehe es ganz danach aus, dass die Ausgrabungen 2017 weitergehen, sagt Denkmalschützer Martynas Uzpelkis. Noch nie hätten Archäologen in Litauen so viel Aufsehen erregt. Der frühere Bürgermeister der Stadt, Arturas Zuokas, habe sogar vorgeschlagen, die Grundschule abzureißen, um die Große Synagoge neu aufzubauen – aber für diesen Vorschlag fehle der Baltenrepublik das Geld.

Nachbarn Juden aus ganz Litauen hätten den aufgewühlten Schulhof besucht, sagt Martynas Uzpelkis, und auch die litauischen Nachbarn seien neugierig geworden. Am Anfang hätten sie die Männer und Frauen mit Spaten und Pinseln nur durch den Zaun beobachtet, aber nach wenigen Tagen begeistert mitgemacht. »Plötzlich brachten die Kinder kleine Schaufeln mit, einen Handfeger oder Pinsel und begannen, neben der Ausgrabungsstätte Archäologen zu spielen.«

Man könne die Geschichte nicht ungeschehen machen, sagt Uzpelkis, »aber ich wünsche mir, dass wir mit dem Gedenken an die Große Synagoge von Wilna die jüdische und die litauische Kultur wieder zusammenführen«.

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