NS-Verbrechen

Wie zwei jüdische Juristen die NS-Verbrechen benannten

Philippe Sands, Autor, Jurist und Völkerrechtler Foto: picture alliance/dpa/dpa-Pool

»Angriffe auf nationale, religiöse und ethnische Gruppen sollten als internationale Verbrechen gelten«, forderte der Jurist Raphael Lemkin (1900-1959) im Jahr 1944. Im Archiv der Columbia University von New York ist das Blatt erhalten, auf dem er verschiedene Begriffe entwarf für das, was in Europa passierte. Er entschied sich schließlich für den Begriff Genozid (Völkermord).

»An die Seite des neuen Begriffs trat eine neue Idee: ein globaler Vertrag, um Gruppen vor ihrer Vernichtung zu schützen und um die Täter vor jeden beliebigen Gerichtshof bringen zu können«, analysiert der britische Jurist Philippe Sands in seinem Buch »Rückkehr nach Lemberg« von 2019. Darin beschreibt er, wie er auf Spurensuche in die Ukraine ging, um Wurzeln seiner Familie zu finden, von der viele Mitglieder im Holocaust ermordet wurden.

Sands, ein bekannter Menschenrechtsanwalt, war überrascht, als er entdeckte, dass an der Lwiwer Universität zwei jüdische Juristen studiert hatten, die die Grundlagen legten für seine heutige Arbeit: Hersch Lauterpacht (1897-1960) und Raphael Lemkin. Sie prägten das moderne Völkerrecht, doch sind ihre Namen jenseits der Wissenschaft kaum bekannt.

Juristische Verfolgung

Lemkin und Lauterpacht suchten eine Antwort darauf, wie die Verbrechen der Nazis juristisch verfolgt werden könnten. Damals konnte ein Staat mit seinen Bürgern im Wesentlichen machen, was er wollte. Die Experten kamen, so führt Sands in seinem Buch aus, zu unterschiedlichen Antworten.

Weil Lauterpacht auf die Rechte des Individuums setzte, das vor Verfolgung und Vernichtung geschützt werden müsse, entwickelte er den Straftatbestand »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Lemkin hingegen wollte ein internationales Recht schaffen, das bei gezielter Ermordung ethnischer oder religiöser Gruppen ermöglichte, die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Zu diesem Zweck führte er den Begriff des Genozids ein.

Am 9. Dezember 1948, vor 75 Jahren, nahm die Generalversammlung der Vereinten Nationen die »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermordes« an. Philippe Sands bezeichnet sie als den »ersten Menschenrechtsvertrag der Neuzeit«.

Erklärung der Menschenrechte

Einen Tag später beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte«. Sie basiert auf den Ideen, die Lauterpacht in seinem 1945 veröffentlichten Buch »An International Bill of the Rights of Man« (Ein internationales Gesetz der Menschenrechte) entwickelt hat.

»Die beiden Männer teilten einen optimistischen Glauben an die Macht des Gesetzes, Gutes zu bewirken und Menschen zu schützen, und an die Notwendigkeit, die Gesetze zu ändern, um dieses Ziel zu erreichen«, bilanziert Sands in seinem Buch. »Beide waren sich einig über den Wert des einzelnen Menschenlebens und über die Wichtigkeit, Teil einer Gemeinschaft zu sein.« Aber: »Sie waren grundlegend verschiedener Meinung über den effektivsten Weg, wie der Schutz dieser Werte zu erreichen sei, ob man sich auf das Individuum oder auf die Gruppe konzentrieren solle.«

So unterschiedlich, wie sie als Juristen dachten, gestaltete sich auch ihr Lebenslauf. Lauterpacht ging nach seinem Studium im heutigen Lwiw erst nach Wien, dann nach England, wo er als Professor an der Universität Cambridge seine akademische Heimat fand. Lemkin arbeitete als Rechts- und Staatsanwalt im polnischen Warschau, bis er nach einer abenteuerlichen Flucht in den USA landete, wo er allerdings nie eine Festanstellung fand. Gemeinsam hatten Lauterpacht und Lemkin, dass fast niemand aus ihren Familien den Holocaust überlebte.

Schwierig nachzuweisen

Was unterscheidet also ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit von einem Genozid? Diese Frage betrifft das zentrale Arbeitsgebiet des Rechtsexperten Sands, der 1998 an der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs mitarbeitete und aktuell den Begriff Ökozid im internationalen Strafrecht verankern will.

Für Hersch Lauterpacht, erklärt er, wäre die Ermordung von Menschen, wenn sie Teil eines systematischen Plans ist, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Für Raphael Lemkin, so Sands, habe der Fokus auf dem Genozid gelegen, der Ermordung vieler Menschen mit der Absicht, die Gruppe zu der sie gehörten, auszulöschen.

Sands stellt fest, dass ein Völkermord für einen heutigen Ankläger schwierig nachzuweisen sei. Nach seiner Erfahrung neigen die Beteiligten an solchen Morden nicht dazu, ihre Absicht offenzulegen oder Spuren in Gestalt von einschlägigen Unterlagen zu hinterlassen.

Meinung

Die Columbia und der Antisemitismus

Ein neuer Bericht offenbart: An der US-Eliteuniversität sind die Nahoststudien ideologisch einseitig und jüdische Studenten nicht sicher. Es ist ein Befund, der ratlos macht

von Sarah Thalia Pines  22.12.2025

Frankreich

Jüdische Kinder vergiftet, aber Antisemitismus spielt keine Rolle

Ein Kindermädchen, das ihre jüdischen Arbeitgeber vergiftet hatte, wurde nun in Nanterre verurteilt - allerdings spielte ihr Antisemitismus im Urteil keine Rolle. Das sorgt für Protest

 22.12.2025

Australien

Gedenken am Bondi Beach – Forderung nach Aufklärung

Kerzen, Schweigen, Applaus und Buh-Rufe: Am Strand in Sydney trauern Tausende um die Opfer des Anschlags. Was die jüdische Gemeinde und Australiens Politik jetzt fordern

 22.12.2025

Belgien

IS droht mit Anschlägen auf Synagogen und Kirchen

Die Hintergründe

 18.12.2025

Sydney

Jüdische Bäckerei schließt wegen Antisemitismus

Nach Jahren der Anfeindungen und dem schwersten antisemitischen Anschlag auf australischem Boden hat eine beliebte jüdische Bäckerei für immer geschlossen

 18.12.2025

Strassburg

Glühwein und Kippa

In der selbst ernannten »Weihnachtshauptstadt« lebt eine traditionsbewusste jüdische Gemeinde. Wie passt das zusammen? Eine Reise zu koscheren Plätzchen und Pralinen mit »Jahresendgeschmack«

von Mascha Malburg  18.12.2025

Meinung

Weitermachen oder die jüdische Resilienz

Verfolgung, Exil und Gewalt konnten es nicht brechen: Die Widerstandsfähigkeit des jüdischen Volkes prägt seine Geschichte bis heute

von Nicole Dreyfus  18.12.2025

Australien

Bericht: Die Heldentat von Ahmed Al-Ahmed sorgt auch in Syrien für Jubel

Die Berichterstattung über den »Helden von Sydney« hat auch dessen Heimatort erreicht und bringt Stolz in eine Trümmerlandschaft

 18.12.2025

Berlin

Ehrung von Holocaust-Überlebenden

Die »International Holocaust Survivors Night« ehrt jedes Jahr Überlebende der Schoah. Die virtuelle Veranstaltung hat sich inzwischen zu einer Feier entwickelt, an der Teilnehmende aus fast 20 Ländern mitwirken

 18.12.2025