Schweiz

Was bleibt

Überlebte als Kind die Schoa: Psychotherapeutin und Filmemacherin Eva Stocker Foto: Blanka Weber

Es sei ein Begriff, sagt Eva Stocker, den eine Psychologin gebraucht habe und der alles auf den Punkt bringe: nackte Seelen! Menschen, die gerade so überlebt haben, bloßgestellt, verwundbar, angegriffen. Das, was bleibt, wenn Männer, Frauen und Kinder entmenschlicht, entrechtet worden und der Vernichtung preisgegeben waren.

Allein sechs Millionen Juden sind es weltweit. Die genaue Zahl wird keiner jemals ermitteln können, obwohl, sagt Eva Stocker, die SS so penibel Buch geführt habe über jene, die man in Transporte pferchte, um sie in Lagern umzubringen, oder über Regionen, aus denen man stolz berichtete, es sei nun alles »judenfrei«.

Kindheit »Das Thema ist meine Mission«, sagt sie knapp und blickt ihrem Gegenüber in die Augen. Es ist ein warmer, tiefer Ausdruck. Ein helles Gesicht, das von dunklem Haar gerahmt wird. Eine zierliche, fast zerbrechliche Gestalt. Jene Eva Stocker weiß selbst nicht, wer sie wirklich ist. Ihre Kindheit verbrachte sie in einer ungarischen Stadt, wuchs – ohne es zu wissen – bei Adoptiveltern auf. Sie hatte einen Ausweis, ein Geburtsdatum, doch es war nicht das echte. Das erfuhr sie später.

Ein Zettel in einem Schuhkarton, zufällig von ihr entdeckt, löste die Suche nach dem eigenen Ich aus und wurde Jahrzehnte später zur Motivation für den nun längsten Film ihres Lebens.

Ein Zettel in einem Schuhkarton löste die Suche nach dem eigenen Ich aus.

300 Stunden Material, Archivrecherchen in Washington, in Genf, in Dachau und immer wieder in Auschwitz. Wenn stimmt, wofür sich Jahre später die Anzeichen mehrten, war auch ihre leibliche Mutter eine jener Deportierten, die man dort ermordete. Der kleine Zettel mit dem Namen eines Bahnbeamten, einem Datum und einem Ort war zwar Indiz und zog doch viele Fragen nach sich. Vor allem jene: Was geschah im Bahnhof von Košice?

auschwitz Durch die slowakische Stadt an der ungarischen Grenze fuhren ab April 1944 jene Züge, deren Endstation Auschwitz war. Quellen berichten von zwei bis sechs Zügen täglich. Man habe genaue Listen mit den Zahlen der Deportierten geführt. Allein am 15. Mai 1944 sollen es fünf Transporte mit 17.000 Personen gewesen sein.

Augenzeugen werden ihr später berichten, dass verzweifelte Mütter auf dem Weg zur Deportation ihre Kinder aus den Waggons reichten, weil die Züge anhielten und nicht sofort weiterfuhren. War auch ihre Mutter dabei? Eva Stocker weiß es nicht. Aber die Vermutung liegt nahe, denkt die Filmemacherin heute.
Nach einem bewegten Leben als Lehrerin, später Autorin und Regisseurin, interviewt sie nun selbst Überlebende. Die Frage nach der eigenen Identität schwingt immer mit.

In ihrem Dokumentarfilm lässt Eva Stocker viele Menschen zu Wort kommen, zeigt sie im privaten Umfeld und hört ihnen zu. Zum Beispiel Gabor Hirsch. Er lebt heute in der Schweiz, stammt aus Ungarn und erzählte ihr vom letzten Treffen im Lager mit seiner Mutter und dem kleinen Stück Brot, das beide einander heimlich schenken wollten, abgezwackt von der eigenen kärglichen Ration.

Er war 14 Jahre alt, als die SS seine gesamte Familie ermordete. Heute ist er ein wortkarger Mann, einer, der sein zweites Leben der Holocaustforschung gewidmet und mit unermüdlichem Fleiß Daten und Material dazu gesammelt hat. Für Überlebende gründete er eine Kontaktstelle. Später wurde ein Verein daraus, der bis heute aktiv ist.

todesmarsch Auch Katharina Hardy gehört zu den Überlebenden, die man im Film kennenlernt. Sie stammt ebenfalls aus Ungarn und lebt heute in der Schweiz. Im letzten Moment hatten sie die Pfeilkreuzler in Ungarn ausfindig gemacht und gemeinsam mit ihrer Mutter auf den Todesmarsch getrieben. Von Ravensbrück kam sie nach Bergen-Belsen und überlebte als Einzige von 40 Personen in ihrer Baracke.

Im Film wird sie mit schwerer Stimme sagen: »Für mich war Deutschland immer die Nation der großen Denker, Philosophen, der Dichter und der Wissenschaft. Wie konnte es dazu kommen?«

Ihr zweites Leben hat Katharina Hardy der Familie gewidmet, ihren drei Kindern, vier Enkeln, drei Urenkeln – und der Musik.

Eva Stocker berichtet von vielen Begegnungen, auch mit jener alten Dame, die ebenfalls aus Ungarn deportiert wurde. Nur weil sie Wasser holte, sei sie im Lager dermaßen bestraft worden, dass sie durch Schläge ein Auge verlor und später auf einem Ohr taub wurde. Dennoch wird auch sie das Positive am Lebensabend sehen: »Ich habe eine wunderbare Tochter bekommen.«

zwangsarbeiterlager »Bedrückend war auch das Gespräch mit Martha«, erzählt die Filmautorin. Als junge Frau trieb man sie aus einem Zwangsarbeitslager in einer Kolonne auf den Todesmarsch Richtung Dachau. Die Alliierten rückten immer näher. Sie stand mit anderen Häftlingen bereits vor einer Gaskammer, als amerikanische Jeeps in das Gelände einbogen.

73 Jahre später lud diese Frau in ein elegantes Restaurant ein und erzählte: »Damals im Lager haben wir vor Hunger immer Rezepte ausgetauscht.« »Was haben Sie ›gekocht‹?«, fragt Eva Stocker. »Wiener Schnitzel«, antwortet Martha.

»Den Holocaust nenne ich den Nullpunkt der Zivilisation«, sagt die Filmregisseurin. »Alles, was Menschen ausmacht, wurde eingesetzt. Ihre kognitive Fähigkeit, etwas vorauszuplanen, Konsequenzen einzuschätzen und die Vernichtung von Millionen Menschen strategisch durchzuführen.« In ihrem Film zeigt sie bewusst keine Toten, wohl aber deren Vermächtnis. »Man kann es kurz formulieren«, sagt sie: »Nie wieder!«

Durch acht Länder ist Eva Stocker gereist und hat immer wieder Zeitzeugen getroffen, mehrfach begleitet und interviewt. »Sie sind mein bestes Korrektiv, wenn ich Fragen habe, stutzig werde, Zusammenhänge nicht verstehe. Sie erzählen alles.«

Der Frage nach dem Überleben näherte sie sich psychologisch. Wie und wann konnten die nackten Seelen heilen? Mit jedem Interview tastete sie sich ein Stück mehr vor.

Stocker möchte an die nächste, die junge Generation glauben.

Eines sei ihr bei allen Gesprächspartnern aufgefallen: »Keiner, nicht ein Einziger, hat das Wort ›Hass‹ gebraucht.« Die Antwort sei sehr einfach, sagt Stocker: »Sie wissen, was Hass auf dieser Welt angerichtet hat. Nein, kein Hass!«

puzzleteile An ihrem kleinen Schnittplatz in der Dachstube inmitten einer schweizerischen Kleinstadt nahe Basel bringt Eva Stocker seit Monaten diese Puzzleteile der Bilder und Töne zusammen. Ihre Filmschnitt-Kollegen sitzen in Budapest, und so entsteht in mühevoller Kleinarbeit die große Dokumentation. Die ersten 180 Minuten sind fertig, ein zweiter Teil wird folgen.

Den Film mache sie für jene Zeit, wenn es keine Menschen mehr gibt, die man direkt auf einem Podium oder vor einer Kamera befragen kann. Und sie mache ihn auch, weil sie der grassierende Antisemitismus in Europa und den USA störe.

Sie möchte an die junge, die nächste Generation glauben und ist überzeugt: »Diese jungen Menschen haben so viel nützliche Energie in sich. Sie sollten sich nicht instrumentalisieren lassen. Was werden sie ihren Kindern beibringen? Hass und Mord? Warum?«

Vor wenigen Tagen hat Eva Stocker den ersten Teil ihres langen Filmprojekts in einer Zürcher Schule vorgestellt. Auch Gabor Hirsch war dabei, jener große, stille Mann, der Auschwitz gleich zweimal überlebt hat. Im Interview erzählte er, dass er schon nackt in der Gaskammer stand, als buchstäblich in letzter Minute aus seiner Gruppe 21 junge, arbeitsfähige Männer von Ärzten selektiert wurden – man brauchte sie noch für die Zwangsarbeit.

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