Ukraine

Warten auf ein Wunder

Kriegsflüchtlinge in einem Evakuierungsbus in Kiew mit der Aufschrift »Kinder« (7. März) Foto: IMAGO/ZUMA Wire

Ein Wunder ist es, für das Yaakov Dov Bleich dieser Tage betet. Purim, sagt der Oberrabbiner der Ukraine, sei die Zeit, in der Wunder geschehen. Es sind Umstände, die ein Wunder durchaus vertragen könnten.

Die Ukraine hat Bleich inzwischen verlassen. Der Krieg hat ihn nach Ungarn getrieben. Und dennoch scheint er sicher zu sein, dass all das nur ein grausames Intermezzo von kurzer Dauer ist. Eine Laune, in der Raketen und Granaten auf Häuser fallen, Luftschutzsirenen den Alltag bestimmen, in der die Millionenstadt Kiew so wie die gesamte Ukraine zum Kriegsgebiet geworden ist. Eine Zeit ist es, in der Russland die »Entnazifizierung« der Ukraine fordert und dann das Gelände der Gedenkstätte von Babyn Jar bei einem Bombardement trifft – auch, wenn das Ziel des Angriffs anscheinend eher der dort stehende Fernsehturm war.

BELAGERUNG Bei russischen Raketenangriffen auf die Millionenstadt Charkiw sind in den vergangenen Tagen mehr als 500 Menschen ums Leben gekommen. Wie die Studentenorganisation Hillel mitteilte, ist darunter auch der jüdische Student Serafim Sabaranskiy (29). Er hatte sich zu einer bewaffneten Freiwilligen-Einheit gemeldet. Russische Raketen schlugen auch ins Chabad-Zentrum der Stadt ein. Verletzt wurde niemand.

Auch Kiew ist dieser Tage eine Stadt unter Belagerung. In den Außenbezirken wird gekämpft. Geschossen wird mit allem, was sich in den Arsenalen findet. Und getroffen wird alles, was im Weg steht: Wohnblöcke, Krankenhäuser, Verwaltungseinrichtungen, Kirchen, kulturelle Denkmäler, Gedenkstätten, Soldaten, Frauen, Zivilisten, Kinder.

In der Stimmung, Purim zu feiern, ist dieser Tage niemand.

»Nazi-Taktiken« seien das, sagt Josef Zissels. Nichts anderes als Nazi-Taktiken und faschistische Methoden. Zissels weiß, wovon er redet. Er war Mitglied der Helsinki-Gruppe, einer Moskauer Menschenrechtsorganisation, und ist nach wie vor als Menschenrechtler aktiv. Zu Sowjet­zeiten war er ein Samisdat-Aktivist, er hat verbotene Schriften publiziert, er war politischer Gefangener.

propaganda »Die Russen«, sagt Zissels mit ruhiger Stimme, »benehmen sich wie Faschisten.« Dann fügt er hinzu: »Aber wir benehmen uns zivilisiert.« Das lasse man sich nicht nehmen, auch wenn alles von Tag zu Tag verrückter werde. »Sie schießen auf Kinder. Sie schießen auf Wohngebiete.« Und er wiederholt: »Das sind Nazi-Taktiken.« Darauf, dass Putin all dies mit »Entnazifizierung« rechtfertige, sagt Zissels: »Das ist doch alles Propaganda.«

Dabei gehe es in Kiew noch so einigermaßen, meint er – anders als in anderen Städten, die wirklich eingekesselt seien wie Charkiw oder Mariupol. Zissels hat Kiew nicht verlassen. Und er hat auch nicht vor, zu gehen. »Ich bin hier zu Hause, und ich bleibe«, sagt er.

Viel zu viel Arbeit gebe es hier. Geld müsse aufgetrieben werden, Sachspenden gelte es zu beschaffen, und irgendjemand müsse sich um die Evakuierung kümmern. Jeden Tag fahren die Busse von der Synagoge ab, erzählt er. Die meisten nach Moldawien. Man müsse nicht jüdisch sein, um mitgenommen zu werden. »Wir nehmen jeden mit.« Dies gelte auch für Geld- und Sachspenden. Die würden für alle gesammelt. »Alles andere wäre absurd.«

hoffnung In der Stimmung, Purim zu feiern, sei dieser Tage niemand. »Es wird sehr klein sein dieses Jahr. Viele sagen auch, das wird kein Purim. Aber wir machen eben, was möglich ist.« Ein Fest der Freude ist Purim sonst. Ein Fest der Masken, der Umzüge, der Wunder. Für die Juden in der Ukraine dieser Tage bestenfalls ein Fest des Hoffens.

In den Außenbezirken Kiews wird gekämpft: eine Stadt unter Belagerung.

Für Gemeindemitglied Jan ist es ein Fest, bei dem er dieses Jahr in erster Linie hofft, dass es die Großeltern nervlich einigermaßen überstehen. Er hofft, dass sich der Zorn und die Wut der Eltern zügeln lassen. Mehr zu hoffen, wagt er nicht.

Aus Charkiw ist er geflohen mit seinen Eltern und Großeltern – Berlin war das Ziel. Jetzt aber stecken sie mit einem kaputten Auto in der Zentralukraine fest. Sie sind bei Bekannten untergekommen und wissen nicht, ob es ihre Wohnungen in Charkiw überhaupt noch gibt. Eine Dauerlösung ist das nicht, das ist allen klar. Auch, weil die Front immer näher heranrückt. Und mit jedem Tag auf dieser Reise sickert auch die Einsicht durch, dass es ein Zurück wohl nicht mehr geben wird.

Jan engagiert sich in der zivilgesellschaftlichen Hilfe für Truppen und Flüchtlinge. Er organisiert Lieferungen mit, fährt in der Stadt umher oder an Checkpoints, um Medikamente, Verbandszeug oder Essen zu liefern. In den Stunden dazwischen hat er eine Informationsplattform organisiert und kümmert sich um die Nerven seiner Familie. Er rotiert wie ein Kreisel: Nur nicht stillstehen, nur nicht zurückblicken, aktiv bleiben, den Blick nach vorne richten.

WHISKEY »Ein Wunder, sagt er, »das ist es, was wir brauchen.« Oder zumindest einen Lichtblick. »Denn derzeit sehe ich für niemanden eine gute Zukunft.« Aber immerhin habe er sich erinnert, dass Purim sei, und auch einen Laden habe er gefunden, der Whiskey verkauft. Das ist sein Plan für Purim. Das ist sein Lichtblick.

Für Oberrabbiner Yaakov Bleich hingegen steht der Tag des Sieges unmittelbar bevor. Davon ist er überzeugt. Vor seiner Flucht aus Kiew hatte er sich noch per Video an die Öffentlichkeit gewandt. »Bitte, betet für uns!«, hatte er gesagt. »Wenn uns jemand helfen kann, bitte tut, was ihr könnt, um zu helfen!«

Bleich sagt, Purim sei der Tag, an dem Wunder wahr würden. Und er sei sich sicher: »Der Krieg wird enden. Mit einem Sieg der Ukraine.« Denn auch, wenn Russland stärker sei und mehr Waffen hätte, so stünde doch Gott auf der Seite der Ukraine.

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