Frankreich

Suppenküche an der Côte d’Azur

Perle der Côte d’Azur nennt sie sich. Die Schöne, die mehrere Hunderttausend Touristen im Jahr anlockt. Paläste und teure Hotels säumen die Uferpromenade an der Baie des Anges, der Engelsbucht. Luxussanierte Stadtvillen aus drei Jahrhunderten schmücken die Boulevards in der Innenstadt.

Jenseits der Bahnlinie beginnt das andere Nizza: billige Hochhäuser aus den 60er-und 70er-Jahren, rußgraue Altbauten, Armut. Allein von den etwa 25.000 jüdischen Bewohnern Nizzas lebt fast jeder Zehnte von weniger als 750 Euro im Monat. Michel und Marga Grosz helfen: In einer Gasse hinter dem Bahnhof hat das Paar eine koschere Tafel eröffnet. Bedürftige bekommen hier ein Menü für zwei Euro und Hilfe in fast allen Lebenslagen.

Kaddisch Ein hagerer Mann an einem der Tische hebt die Hand und bittet um Ruhe. Michel Grosz erinnert mit wenigen Worten an einen kürzlich Verstorbenen. »Ihr kennt ihn alle.« Die Menschen an den Tischen der koscheren »Table Ouverte«, der jüdischen Tafel, vertiefen sich ins Gebet: Kaddisch für einen Gast, der vielen hier zum Freund geworden war.

Nach dem Gedenken servieren Männer und Frauen in weißen Kitteln das Hauptgericht: Jeder bekommt seine Portion Couscous mit Merguez-Würstchen und Ratatouille. Jemand schenkt Wein und Wasser ein. An den gedeckten Tischen sitzen Menschen, die man anderswo in Nizza selten sieht: Mütter, die für ihre Kinder nicht genug zu essen kaufen können, oder Ältere wie der 71-jährige Micha. Er kam 1962 aus Algerien, fand Arbeit auf dem Bau, später bei der Bahn, dann bei der Post. Trotzdem reicht seine Rente nicht für seine beiden behinderten Kinder und die blinde Frau. Ruhig erzählt er seine Geschichte. Er weiß nicht, was er ohne die Unterstützung der Table Ouverte machen würde: »Ich danke diesen Leuten von ganzem Herzen.«

zuwendung »Sie sind alle Menschen wie wir«, sagt Marga Grosz. Jeder erhält das gleiche Essen und die gleiche Zuwendung. »Wir wollten keine typische Armenküche sein«, ergänzt Michel. Weil sich manche wegen ihrer Armut schämen, verkauft das Ehepaar die Essenmarken diskret in einer Ecke am Eingang. Jeder zahlt, was er kann: zwei Euro die Armen, acht Euro Selbstkostenpreis, wer kann, gibt mehr. Wer gar nichts hat, erhält die Essenmarke oft kostenlos. Am Tisch zeigen alle das gleiche Ticket – für Michel Grosz eine Frage der Würde.

Er begrüßt seine Gäste persönlich, geht von Tisch zu Tisch, um sich mit ihnen zu unterhalten. Er kennt ihre Geschichten, wie die von Rosi: Mit ihren fünf Kindern lebt die 37-Jährige in einer Ein-Zimmer-Wohnung für 600 Euro. Ihr Mann hat sie verlassen, zahlt keinen Unterhalt. Wenn die Kinder in der Schule sind, geht Rosi putzen oder hilft alten Leuten für ein wenig Geld beim Einkaufen. Oft zahlen ihre Auftraggeber nur fünf Euro die Stunde – oder nichts. Einklagen kann sie ihren Lohn nicht: Schwarzarbeit.

Jetzt soll sie eine Wasserrechnung von 800 Euro bezahlen. Für Notfälle hat Michel aus Spenden eine Kasse angelegt. Damit hilft er seinen Gästen, wenn sie Miete, Strom oder Wasser nicht bezahlen können. Auch für die Toten sammelt er. Für rund 120.000 Euro hat er eine Grabstätte auf dem Nizzaer Ostfriedhof gekauft. Vor allem Religiöse quäle es, dass sie in einem anonymen Gemeinschaftsgrab bestattet würden, wenn ihre Familien ein jüdisches Begräbnis nicht bezahlen können, sagt er.

Verzicht
Nizza ist teuer. Selbst in den günstigeren, vielerorts heruntergekommenen Vierteln im Norden kosten Mietwohnungen kaum weniger als in Paris oder München. Damit wenigstens die Kinder satt werden, verzichtet Rosi oft aufs Essen. Sie sieht blass aus. Die Reparatur ihres kaputten Gebisses kann sie sich nicht leisten. Michel Grosz hat einen Zahnarzt gefunden, der den Bedürftigen kostenlos die Zähne repariert. Drei Optiker fertigen ehrenamtlich Brillen. Ein Fleischer spendet Gutscheine für koscheres Fleisch.

»Hauptberuflicher Schnorrer« nennt sich Michel lachend. Äußerlich unterscheidet sich der 70-Jährige kaum von seinen Gästen: kariertes Hemd unter einem schlichten dunkelblauen Pullover, einfache Hose. In der Stadt fällt er nur durch seine schwarze Kippa auf. Bedroht fühle er sich deswegen in Nizza nicht. Nur manchmal höre er von arabischen Jugendlichen »dumme Kommentare«. Aber als ehemaliger israelischer Soldat könne er sich wehren, »falls mich wirklich mal jemand angreift«.

Michels Familie stammt aus Ungarn. 44 seiner Angehörigen haben die Schoa nicht überlebt. Seine Eltern sind rechtzeitig ins damalige Palästina geflohen. Dort kam er 1943 zur Welt. Aufgewachsen in Israel, arbeitete er als junger Mann auf dem Bau in Deutschland, studierte Betriebswirtschaft, wurde Manager und Unternehmensberater. Er hat gut verdient und zusammen mit seiner Frau Marga eine auskömmliche Rente.

Weil er Jude sei, widme er sein Leben den Menschen, die »nicht so viel Glück hatten«, sagt er. Ein Jude müsse gute Taten, Mizwot, erbringen. Das Ziel sei, Olam Haba, die künftige Welt, zu erreichen. Jeder Mensch besitze »eine Seele, mit einem eigenen Ziel, das man vielleicht in seinem vorherigen Leben nicht erreicht hat. Wenn jemand stirbt, bevor er ankommt, kehrt seine Seele in einem anderen Menschen zurück, um diese Aufgabe abzuschließen«.

Konzept Vor 14 Jahren hat Michel seine Bestimmung gefunden. Im Fernsehen sah er einen Bericht über eine 80-Jährige, die in Nîmes eine Tafel gegründet hatte. »Sie hat mich mit ihren leuchtenden Augen und ihrer Energie beeindruckt. Ich habe sie sofort angerufen«, erinnert sich Michel. Er besuchte sie und brachte das Konzept mit nach Nizza, wo er einen Saal der jüdischen Gemeinde für die Table Ouverte mietete.

Vergangenes Jahr haben sie dort 15.000 koschere Mahlzeiten verteilt. Die Hauptgerichte liefert die Küche des jüdischen Altersheims, Vor- und Nachspeisen bereiten ehrenamtliche Helfer zu. Michel ist mit dem Werk zufrieden. Der Glaube gebe ihm die Kraft für sein Engagement. Sein Hauptgesellschafter sei »der große Boss da oben«, sagt Michel lachend und zeigt zur Decke. Der finde immer eine Lösung.

Zwischen zwölf und 20 Ehrenamtliche erledigen bei der Tafel die gesamte Arbeit – von der Küche bis zur Buchhaltung. Michels Ehefrau Marga ist eine von ihnen. Sie freue sich, »nützlich zu sein«, sagt sie, und den Menschen in Not ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Viele der ehrenamtlichen Helfer seien gute Freunde geworden. »Wir werden nicht bezahlt. Da gibt es keine Konkurrenz untereinander.«

helfer Die meisten Helfer sind Rentner, aber auch ein Pilot ist dabei, der im Liniendienst fliegt. Neben Juden helfen auch ein paar Nichtjuden in der Küche oder beim Servieren: zum Beispiel Michel Fénard. Er sagt: »Ich habe das Glück, gesund und vermögend zu sein.« Er möchte Menschen helfen, denen das Schicksal weniger gewogen ist. »Das sei das klassische Motiv für ehrenamtliches Engagement«, analysiert er nüchtern. Als Wissenschaftler mag er den scharfen jüdischen Geist, dem Europa viel zu verdanken habe. Hier finde er neben einer sinnvollen Aufgabe auch »Esprit und Spiritualität«.

Über die Jahre haben sich Gäste und Gastgeber immer besser kennengelernt. Die meisten duzen sich, hören einander aufmerksam zu, lachen und genießen die Achtung voreinander.

Michel Grosz empfindet die Tafel mittlerweile als Routine. »Sie brauchen mich nur noch als Geldsammler.« Deshalb plant er sein nächstes Projekt: Weil die Vermieter in Nizza von jedem Bewerber einen Einkommensnachweis und eine Mietbürgschaft verlangen, finden Geringverdiener und Arbeitslose kaum noch eine Bleibe. Ältere hätten gar keine Chance mehr. »Wer eine Wohnung mieten will, muss nachweisen, dass er im Monat das Dreifache der Miete verdient«, erklärt Michel. »Wenn du 600 Euro im Monat hast und ein Ein-Zimmer-Appartement selbst in einer schlechten Gegend schon 400 Euro kostet, kannst du dir die Wohnungssuche sparen.« Deshalb will Michel mit Vermögenden eine Gesellschaft gründen, die Unterkünfte mietet und armen Wohnungssuchenden untervermietet.

»Für Reiche sind 20.000 Euro so viel wie 50 Euro für einen Normalverdiener.« Die könnten als Gesellschafter seiner gemeinnützigen Wohnungsfirma das Risiko von Mietausfällen gemeinsam tragen und Verluste von der Steuer abschreiben. Für den Einzelnen seien das keine großen Summen – aber für die Armen ein Riesengewinn.

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