Interview

»Seder beim Feind«

Frau Horn, vor 150 Jahren begann der Amerikanische Bürgerkrieg. Worum ging es?
Für die Leute in den Südstaaten ging es vor allem um die Rechte der amerikanischen Bundesstaaten. Als die USA gegründet wurden, waren sie eine Konföderation von Staaten, die nur sehr locker und weitläufig von der Zentralregierung in Washington kontrolliert wurden; jeder Staat hatte seine eigene Kultur und Politik. Im Norden war das nicht so wichtig, aber im Süden wurde es als Entschuldigung für die Sklaverei gebraucht. Im Grunde stießen in diesem Bürgerkrieg zwei amerikanische Grundwerte aufeinander: auf der einen Seite die persönliche Unabhängigkeit um jeden Preis, einschließlich des Rechts, andere Menschen zu versklaven; auf der anderen Seite Freiheit und Gerechtigkeit – und die sollten für jeden Einwohner des Landes gelten.

Wo standen die amerikanischen Juden in diesem Konflikt?
Es gab damals nicht sehr viele Juden in Amerika. Ich würde sagen: alles in allem eine halbe Million. Die meisten von ihnen kamen aus Deutschland, aus Bayern. In der Alten Welt war es ihnen lange verboten gewesen, Land zu besitzen. Sie wurden darum keine Farmer, sondern Händler. Sie gingen in die ländlichen Gebiete, um ihre Waren feilzubieten. Häufig durchwanderten sie dabei ganze Staaten. Wenn sie genug Geld zusammen hatten, gründeten sie ein Geschäft und dann häufig Zweigniederlassungen. Verschiedene Mitglieder derselben Familie wohnten häufig an Orten, die weit voneinander entfernt lagen: Die Lehman Brothers sind ein gutes Beispiel dafür. Sie waren ursprünglich im Baumwollgeschäft tätig. Einer der Brüder wohnte in Alabama, der andere in New York.

Für die Juden war der amerikanische Bürgerkrieg also oft auch ein Familienkonflikt.
Ja, die meisten kannten jemanden auf der anderen Seite – im Unterschied zu den nichtjüdischen Amerikanern, die meist arme Farmer waren. Die Juden erlebten den Bürgerkrieg in einem viel moderneren Sinn als sie. Als die Nordstaatenarmee in den Süden einmarschierte, wurden jüdische Soldaten dort regelmäßig zum Schabbatessen oder zum Seder eingeladen. Auf der anderen Seite – im Norden – besuchten Juden die jüdischen Kriegsgefangenen von der Konföderiertenarmee im Gefängnis und steckten ihnen Pakete mit Mazze zu. Es hat auch Fälle gegeben, wo Leute sozusagen den Feind heirateten: Die Nordstaatenarmee hielt eine Stadt im Süden besetzt, und ein jüdischer Soldat verliebte sich in eine Frau, die der örtlichen jüdischen Gemeinde angehörte.

Wie verhielten sich die Rabbiner?
Viele christliche Kirchen spalteten sich beim Ausbruch des Bürgerkriegs. Es gab eine Abstimmung zur Frage der Sklaverei. Die Befürworter traten aus und gründeten quasi auf der anderen Straßenseite ihren eigenen Verein. So entstanden etwa die Southern Baptists und die Southern Methodists. Damals existierten schon zumindest zwei übergreifende amerikanisch-jüdische Institutionen: B’nai Brith und das Board of Israelite Delegates. Diese beiden Institutionen spalteten sich nicht. Sie blieben zusammen. Die meisten Rabbiner kamen aus Großbritannien und vermieden es, an der Debatte über die Sklaverei teilzunehmen. Allerdings gab es Ausnahmen. Eine davon war Rabbi David Einhorn aus Baltimore – ein Gegner der Sklaverei. Seine politischen Ansichten machten ihn bei seiner Gemeinde dermaßen unbeliebt, dass sie ihn feuerte. Eine andere Ausnahme war Morris Raphall aus New York. Der behauptete, dass die Tora die Sklaverei rechtfertige – obwohl es in der hebräischen Bibel nur Schuldknechtschaft auf Zeit gibt.

Die meisten Weißen in den Südstaaten waren keine Sklavenhalter. Wie viele Juden besaßen Sklaven?
Wahrscheinlich weniger als die nichtjüdischen Weißen, da den meisten Juden keine Plantagen gehörten. Aber gewiss waren Juden am Sklavenhandel beteiligt. Gern würde ich sagen, dass Juden aus moralischen Gründen grundsätzlich etwas gegen die Sklaverei gehabt hätten, aber das ist leider nicht wahr. Es gab Sederabende in Carolina und Alabama, bei denen schwarze Sklaven die Gerichte auftrugen.

Lassen Sie uns in diesem Zusammenhang von Judah Benjamin sprechen.
Ich sollte erwähnen, dass Juden in den Südstaaten indirekt vom Rassismus profitierten, weil sie dort einfach als weiß galten – während sie in den Nordstaaten als eigenständige Ethnie wahrgenommen wurden. Die Juden in den Südstaaten waren besser integriert, ihre Nachbarn kannten sie. Es gab dort jüdische Senatoren, lange ehe dies im Norden denkbar gewesen wäre. Judah Benjamin stammte aus der Karibik, er wuchs in North Carolina auf, sein Vater war Aschkenasi, seine Mutter eine Sefardin. Benjamin war ein Wunderkind, mit 14 wurde er in Harvard als Jurastudent aufgenommen. Später war er Anwalt in New Orleans, heiratete eine Nichtjüdin aus der französischen Oberschicht der Stadt und kaufte eine Plantage und hundert Sklaven, weil er anders nicht in den amerikanischen Senat gewählt worden wäre. Als der Süden sich abspaltete, hatte Benjamin die Chance, als Richter ins Oberste Verfassungsgericht gewählt zu werden. Aber er entschied sich, seinem Bundesstaat, Louisiana, treu zu bleiben und verließ Washington. Er wurde Kriegsminister der Konföderierten, was insofern interessant ist, als er von militärischen Dingen überhaupt nichts verstand. Benjamin war der Sündenbock, den man für jede Niederlage auf dem Schlachtfeld verantwortlich machen konnte. Danach wurde er Außenminister der Konföderation. Er war der engste Vertraute von Jefferson Davis, dem Präsidenten der Konföderierten. Er fand sich also in der klassisch sefardischen Position des Hofjuden wieder. In der Presse wurde er oft »Judas Benjamin« genannt, sowohl im Norden als auch im Süden. Er war so etwas wie ein Blitzableiter für Antisemitismus. Alle, die ihn je getroffen haben, sprechen von seinem Lächeln: Wenn ihn jemand beleidigte, und es gab viele persönliche antisemitische Beleidigungen, verteidigte er sich nie. Er lächelte nur.

Was passierte mit ihm, nachdem die Nordstaaten die Konföderation besiegt hatten?
Lange Geschichte. Nach einer abenteuerlichen Flucht ließ er sich in England nieder, machte dort eine zweite Karriere als Anwalt und schrieb ein Buch über britisches Wirtschaftsrecht, das noch heute in Gebrauch ist.

Während des Bürgerkriegs kam es zu der einzigen Maßnahme, die je von der amerikanischen Regierung gegen jüdische Amerikaner ergriffen wurde. Richtig?
Als General Ulysses S. Grant 1862 mit der Nordstaatenarmee Tennessee, Mississippi und Teile von Kentucky einnahm, ließ er die Juden von dort vertreiben. Seine Begründung: Die Juden »als Klasse« seien Kriegsgewinnler – eine klassische antisemitische Verleumdung. Alle jüdischen Familien in dieser Gegend mussten das Gebiet binnen 24 Stunden verlassen, ihr Eigentum wurde konfisziert. Für mich ist das Bemerkenswerte daran nicht die Vertreibung der Juden, sondern die Tatsache, dass dieser Erlass schon drei Wochen später rückgängig gemacht wurde – und warum dies geschah. In Puducah, Kentucky, lebten damals 35 jüdische Familien, die sich gezwungenermaßen auf die Reise nach Illinois machten. Fünf von ihnen beschlossen, dass sie sich das nicht würden bieten lassen. Sie gingen nach Washington und sprachen im Weißen Haus mit Abraham Lincoln, der von der ganzen Angelegenheit noch gar nichts gehört hatte. Er sagte: »Wollen Sie mir erzählen, dass die Hebräer aus dem glücklichen Land Kanaan vertrieben wurden?« Dann kassierte Lincoln den Erlass und die Juden kehrten nach Hause zurück.

Später wurde Ulysses S. Grant amerikanischer Präsident.
Ja, und als Präsident öffnete er die Tore für die jüdischen Einwanderer aus Russland und Galizien. Mir gefällt es, das als einen Akt der Teschuwa zu betrachten.

Das Gespräch führte Hannes Stein.

Die Schriftstellerin Dara Horn wurde 1977 in New Jersey geboren. Sie lehrte in Harvard Jiddische Literatur und Israelische Geschichte. Vor zwei Jahren erschien im Berlin Verlag ihr Roman »Vor allen Nächten« (übersetzt von Christiane Buchner und Martina Tichy, 478 S, 22 Euro). Er erzählt von den Abenteuern des Jacob Rappaport, einem Sohn jüdischer Einwanderer aus Deutschland, im amerikanischen Bürgerkrieg.

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