Ukraine

»Psalmen gegen Raketen«

Endlich angekommen: Flüchtlinge aus Charkiw in der Golden-Rose-Synagoge der Stadt Dnipro am vergangenen Sonntag Foto: picture alliance / AA

Die Dame am anderen Ende der Leitung wählt ihre Worte knapp. Es rauscht, der Ton bricht immer wieder ab. Immer wieder aufs Neue wiederholt sie, bis die Puzzleteile eines zerhackten Satzes sich am anderen Ende zusammenfügen: »Evakuierung, wir arbeiten an der Evakuierung«, sagt sie.

Die Frau, die hier von Evakuierung spricht, arbeitet für die jüdische Gemeinde in Charkiw. Seit zwei Wochen ist Krieg in der Ukraine. Charkiw, eine Millionenstadt im Osten des Landes, war vom ersten Tag dieses Krieges an schwer umkämpft. Vor der Stadt stehen russische Soldaten. Erst hatte die russische Armee mehrmals versucht, Charkiw im Sturm zu nehmen – doch ohne nennenswerte Ergebnisse, aber unter großen Verlusten. Seit einer Woche liegt Charkiw unter Dauerbeschuss, und es wird alles getroffen: Wohngebäude, Schulen, Verwaltungseinrichtungen, Versorgungsleitungen.

KÄMPFE Rund 40 Kilometer sind es vom Stadtzentrum bis zur russischen Grenze. Viele der 1,5 Millionen Einwohner haben Charkiw seit Beginn der Kämpfe verlassen. Vor allem die vielen ausländischen Studenten in Charkiw versuchen, aus dem Kriegsgebiet zu kommen. In Charkiw gibt es 13 Hochschulen – vor dem Krieg war die Stadt ein beliebter Studienort für junge Menschen aus dem Nahen Osten, Asien und Afrika. Sie war der Plan B für viele, für die ein Schengen-Visum unerreichbar, aber eine Ausbildung in Europa das Ziel war. Eine junge Stadt war Charkiw. Eine, in der Studenten am Abend in den Parks Gitarre spielten und Bier tranken, sangen und Schabernack trieben. Das ist vorbei.

Und das ist die neue Realität der Stadt: Wohnviertel werden beschossen, auf die Stadt wurden schwere Bomben abgeworfen, Nacht für Nacht schlagen Raketen ein. Es ist die Hölle, so eine junge Frau, die nach wie vor in ihrem Appartement im obersten Stockwerk eines Wohnblocks wohnt. Einen anderen Zufluchtsort hat sie nicht – und die Metro mit ihren Schächten, die in diesen Tagen als Bunker dienen, die ist weit.

In dieser Hölle hat die örtliche jüdische Gemeinde ihre Pforten geöffnet – soweit das eben geht. Im Keller der Hauptsynagoge haben Dutzende Menschen Zuflucht gefunden. Täglich wird gebetet. Mit »Psalmen gegen die Raketen«, so beschreibt jemand die Stimmung.

Notschlaflager Im Keller wurde ein Notschlaflager eingerichtet. Zugleich wird versucht, ältere Personen, die nicht in die Synagoge kommen können, mit Essen zu versorgen – ein Unterfangen, das Tag für Tag gefährlicher wird. Das religiöse Leben beschränkt sich in der Choral-Synagoge, dem größten jüdischen Bethaus der Ukraine, mittlerweile auf täglich ein Gebet – eines, damit sich ein Wunder der Geschichte wiederholt. Denn den Zweiten Weltkrieg hat die Synagoge unbeschadet überstanden.

Aus der Stadt zu kommen, ist inzwischen kaum mehr möglich. Die Arbeit an der Evakuierung erweist sich als langwierig, Charkiw ist de facto eingeschlossen.

Aus der Stadt zu kommen, ist inzwischen kaum mehr möglich. Die Arbeit an der Evakuierung erweist sich als langwierig, Charkiw ist de facto eingeschlossen. Nach Angaben der Stadtverwaltung verhandelt man derzeit über einen humanitären Korridor. Aber die Lage ist unübersichtlich.

Niemand könne sagen, wie viele Menschen noch in der Stadt seien, sagt die Frau am anderen Ende der Leitung. Und auch darüber, wie viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde noch in Charkiw seien, könne sie eigentlich nichts sagen. Nur: Es seien noch sehr viele in der Stadt. Zahlreiche hätten Charkiw aber verlassen.

Jan ist einer jener, die es aus der Stadt geschafft haben. Vor einer Woche hat er seine Eltern und seine Großeltern mehr oder weniger gezwungen, schnell ein paar Sachen zusammenzupacken. Er hat den Kofferraum seines Autos vollgestopft, seine Familie ins Auto geschoben, ihnen seinen Hund auf den Schoß gesetzt und ist losgefahren. Nach drei Tagen waren sie in Krywyj Rih, einer Großstadt rund 360 Kilometer südwestlich von Charkiw. Da gab das Auto dann den Geist auf. Erzwungenes Zwischenziel.

MAIDAN Während der Maidan-Revolution 2013/14 hatte Jan mitgeholfen, den riesigen Lenin am Hauptplatz von Charkiw zu Fall zu bringen. Die Nase dieses Bronzegiganten hatte er als Andenken auf seinem Dachboden versteckt. Er half mit, die Truppen im Osten des Landes während des Krieges um die von Russland unterstützten abtrünnigen Gebiete in Donezk und Luhansk zu versorgen. Er hat Flüchtlingen geholfen, die aus diesen umkämpften Gebieten nach Charkiw kamen. Viele waren das. Menschen, die jetzt erneut vom Krieg eingeholt werden.

Im Keller der Charkiwer Hauptsynagoge haben Dutzende Menschen Zuflucht gefunden.

Jan hat Bastelklubs veranstaltet und Musik gemacht mit den Kindern, er hat Bier getrunken in den Parks am Abend und mit Bekannten und Fremden gern über sein Lieblingsthema gesprochen: die Geschichte Charkiws und vor allem die Geschichte der jüdischen Gemeinde der Stadt – eine Geschichte voller Mord, Leid und Migration.

besatzung Während der Besatzung der Stadt durch Nazideutschland wurden laut Stadtarchiv 16.000 Juden von den Deutschen ermordet. Die stalinistischen Säuberungen wiederum betrafen ebenfalls stark die jüdische Gemeinde. In den 80er-, aber vor allem in den 90er-Jahren verließen dann viele Juden Charkiw, um in den Westen zu gehen, nach Amerika, nach Israel, nach Deutschland.

In Krywyj Rih hilft Jan jetzt, Güter zu verladen, und bei der Reparatur von Schäden. Er sammelt für die Truppen, die etwas weiter südlich gegen die einfallende russische Armee kämpfen. »Wir alle sind Ukrainer«, sagt Jan, »egal ob griechisch-katholisch, ukrainisch-orthodox, russisch-orthodox, evangelikal oder jüdisch. Das ist unser Land.« Sich nach Israel in Sicherheit zu bringen, das will er nicht. Und selbst kämpfen, das sei auch nicht seine Sache. Viele andere ukrai­nische Juden aber haben sich der Armee oder Bürgerwehren angeschlossen.

»Ich bin hier zu Hause«, sagt Jan und meint die Ukraine. Aber die Heimat ist außer Reichweite: Charkiw, seine Stadt, mit ihren waldartigen Parks, den Alleen zwischen den charmant klobigen Jugendstilhäusern, seinen Bars unter Straßenniveau.

archive Für die Erhaltung alter Gebäude hat Jan mit der Stadtverwaltung und mit Investoren gestritten. Er hat sich durch Archive gewühlt, durch die Fotoalben deutscher und österreichischer Wehrmachtssoldaten, die in Charkiw waren – auf der Suche nach alten Ansichten. Er kämpfte für die Erhaltung alter Bauwerke, die Bürotürmen hätten weichen sollen. Bauwerke, die heute nicht mehr Gegenstand von Debatten sind – sondern Ziele von Raketen.

Jetzt rückt auch vom Süden die russische Armee näher heran. Und langsam sickert bei ihm die Einsicht: Auch Krywyj Rih wird wohl nicht der Ort sein, an dem er bleiben kann.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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