Sexualtherapeutin

Pionierin der Lust

»Viele Menschen heute leiden an einem Mangel an sexueller Energie, sie sind nur auf ihre Karriere fixiert«: Shirley Zussman Foto: Harry Zernike

Sexualtherapeutin

Pionierin der Lust

Shirley Zussman praktiziert in Manhattan und feierte kürzlich ihren 100. Geburtstag

von Sebastian Moll  19.12.2014 16:36 Uhr

Shirley Zussman fühlt sich nicht besonders wohl auf der Couch in ihrem kleinen Büro auf der New Yorker Upper East Side, sie mag es ganz augenscheinlich nicht, diejenige zu sein, die Fragen beantwortet. Schließlich ist Dr. Shirley, wie sie von ihren Freunden liebevoll genannt wird, Therapeutin, und das schon seit mehr als 50 Jahren.

Sie denn, warum sich die Leute alle so für mich interessieren?», fragt sie und zupft dabei ihr adrettes Strickkostüm zurecht. «Ist es das Alter, oder ist es der Beruf?»

Nun, es ist beides. Dr. Shirley ist in diesem Sommer 100 Jahre alt geworden. Und sie praktiziert als Sextherapeutin. «Zehn bis 15 Patienten pro Woche habe ich noch», sagt sie. «Ich verstehe nicht, was das soll: Ruhestand», fügt sie an, «was würde ich denn da den ganzen Tag machen?»

Gerade weil sie ihren Beruf so liebt, ist ihr die ganze Sache mit dem 100. Geburtstag eher unangenehm. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn die Reporter weggeblieben wären. «Meine Patienten brauchen nicht unbedingt zu wissen, wie alt ich bin.»

Witz Von ihrem Äußeren her würde man es Dr. Shirley nie anmerken, dass sie wenige Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs zur Welt gekommen ist. Sie hat wache, funkelnde Augen und bewegt sich durch ihr Behandlungszimmer, als wäre sie höchstens 70. Ihr Verstand und ihr trockener New Yorker Witz sind ungebrochen. «Demnächst bin ich zu einer Konferenz von Sexualtherapeuten eingeladen», sagt sie kokett. «Keine Ahnung, was die mit mir alter Schachtel da wollen.»

Natürlich weiß sie genau, was man dort von ihr will. Denn Shirley Zussman hat viel zu erzählen. Schließlich ist sie eine der Pionierinnen der Disziplin und eine Quelle von Erfahrung, wie es sie nicht noch einmal gibt.

So kann sich Shirley Zussman genau an die ersten Vorlesungen von William Masters und Virginia Johnson erinnern, die in den 50er-Jahren parallel zu Alfred Kinsey das unerhörte Unternehmen wagten, die menschliche Sexualität zu erforschen und gezielte Therapien zu entwickeln.

Shriley Zussman war damals praktizierende Psychotherapeutin, ihr Mann Gynäkologe. Ihre Doktorarbeit hatte sie bei Margaret Mead geschrieben, jener revolutionären Kulturanthropologin, die radikal die Geschlechterrollen in der westlichen Gesellschaft infrage stellte. Shirley Zussmans Thema: «Die Anwesenheit des Mannes bei der Geburt». Das war seinerzeit tabu, doch sie befürwortete es entschieden.

Die Rebellion lag der berufstätigen Mutter im Blut, und so waren die Ausführungen von Masters und Johnson für sie eine Offenbarung. «Ich erinnere mich, wie aufgeregt mein Mann und ich waren, als wir von den ersten Vorlesungen zurückkamen.» Menschen mit Sexualproblemen gezielt zu helfen, ohne sie jahrelangen Psychoanalysen zu unterziehen, das fand Zussman ebenso radikal wie einleuchtend. Sie begann, mit Masters und Johnson zusammenzuarbeiten und integrierte die neuen Praktiken und Erkenntnisse immer stärker in ihren therapeutischen Alltag. Es dauerte nicht lange, bis Dr. Shirley eine führende Kapazität auf dem Gebiet war. So unterschiedliche Figuren wie Shere Hyte und Ruth Westheimer nennen sie ihre Mentorin, und viele Jahre stand sie der nationalen Vereinigung der Sexualtherapeuten vor.

Es waren spannende Zeiten damals. Man merkt Dr. Shirley an, wie gerne sie sich an die Aufbruchstimmung erinnert. «Wir konnten damals so viel für die Befreiung der Sexualität tun.»

Das Wichtigste war natürlich, so Shirley Zussman, dass überhaupt offen über Sex gesprochen wurde. Mindestens ebenso stolz ist sie jedoch darauf, was sie und ihre Zeitgenossen für die Befreiung der weiblichen Sexualität getan haben.

«Das große Thema der Zeit damals war der weibliche Orgasmus», sagt sie und klingt dabei so sachlich, als würde sie über Magenprobleme oder Schlafstörungen reden. «Vor uns war es für Frauen ja gar nicht immer klar, dass sie auch Orgasmen haben konnten – und sollten. Wir haben ihnen das beigebracht.»

Scham Wenn Shirley Zussman etwas an dieser Zeit bedauert, dann, dass sie zu alt war, um noch selbst an der sexuellen Revolution teilzunehmen. «Ich sollte das nicht öffentlich sagen», sagt sie etwas verschämt, «aber ich habe meine Kinder beneidet. Sie konnten nach Herzenslust experimentieren, es waren aufregende Zeiten.»

Natürlich findet Dr. Shirley auch einiges Gute daran, dass das Pendel wieder zurückgeschwungen ist. «Die Art und Weise, wie man damals nach sexuellem Vergnügen gesucht hat, hatte etwas Frenetisches. Zum Glück haben die Menschen danach wieder entdeckt, dass sie mehr voneinander wollen und brauchen als nur sexuelle Befriedigung.»

Klage Und was sind heute die Themen, mit denen die Menschen zu Dr. Shirley kommen? «Ach», seufzt sie, «das ist ein trauriges Kapitel.» Die größte Klage, die Shirley Zussman in den vier Wänden ihres 20-Quadratmeter-Büros an der 79. Straße hört, ist die Lustlosigkeit. «Die Leute leiden an einem Mangel an sexueller Energie. Es ist wie eine Epidemie.»

Shirley Zussman hat viele Erklärungen für dieses Phänomen, und keine davon stimmt einen positiv über unsere Zeit. «Die Leute sind auf ihre Karriere fixiert, sie denken nur an sich selbst.» Die Tatsache, dass intime Beziehungen Zeit und Aufmerksamkeit verlangen, sei gerade unter gestressten New Yorkern völlig in Vergessenheit geraten.

Die neuen Technologien täten dabei ihr Übriges. «Die Leute sind die ganze Zeit auf Facebook und schicken sich E-Mails», sagt sie. «Dabei haben sie völlig verlernt, sich anzuschauen und anzufassen.»

In dieser Welt fühlt sich Dr. Shirley nicht mehr hundertprozentig wohl. Doch kurioserweise kommt sie sich dabei trotz ihrer 100 Jahre manchmal viel jünger vor als ihre überarbeiteten, erschlafften Patienten.

Das Geheimnis ihrer Jugendlichkeit mag sie freilich nicht verraten. Nur so viel: «Man darf sich im Alter nicht einreden lassen, dass man nur noch allein zu Hause hocken muss», sagt sie. Und fügt an: «Es gibt immer Wege, Leute kennenzulernen, wenn man will.» Dabei lächelt sie verschmitzt und wirkt, als wäre sie allerhöchstens 65.

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