Niederlande

Pikuach Nefesch in der Krise

Corona in den Niederlanden: Sanitäter in Schutzkleidung transportieren einen Patienten. Foto: imago images/ZUMA Wire

Es sind schwere Anschuldigungen, die Anfang des Monats bei einer Online-Besprechung der Europäischen Rabbinerkonferenz geäußert wurden: Das niederländische Gesundheitssystem stelle »keine medizinische Versorgung zur Verfügung, vor allem keine Beatmungsgeräte … selbst im jüdischen Pflegeheim nicht. Sie evakuieren Patienten nicht, die ins Krankenhaus eingeliefert werden müssten«.

So berichteten israelische Medien. Sie zitieren den Amsterdamer Oberrabbiner und Leiter des Beit Din, Eliezer Wolff, sowie seinen Vorgänger, Rabbiner Aryeh Ralbag. Der heftigste Vorwurf: »Sie beschleunigen ihren Tod, indem sie hohe Morphiumdosen verabreichen.«

DISKUSSION Anlass ist die immer emotionaler werdende Diskussion in den Niederlanden um ein jüdisches Altenheim in Amsterdam, in dem der Corona-Ausbruch zu besonders vielen Opfern geführt hat. Wie ein Sprecher des Wohlfahrtsverbandes, der die Einrichtung betreibt, Ende vergangener Woche sagte, seien 28 von 120 Bewohnern an Covid-19 gestorben, 24 weitere seien inzwischen wieder gesund.

»Die Position der Tora ist nicht die des niederländischen Staates«, sagt Oberrabbiner Eliezer Wolff.

Über womöglich unzureichende und zu spät ergriffene Schutzmaßnahmen wurde in niederländischen Medien einschließlich der jüdischen Wochenzeitung »Nieuw Israëlitisch Weekblad« (NIW) viel berichtet. Wegen der »überproportional hohen Sterblichkeit« bat der Verband zur Interessenvertretung von Verfolgungsopfern (VBV) – er vertritt die Holocaust-Überlebenden in den Niederlanden – die staatliche Gesundheitsinspektion um die Untersuchung der Vorfälle.

Die Inspektion jedoch lehnte ab. Man sehe »keine Hinweise auf unzureichende Versorgung«, hieß es. Dass der Antrag abgelehnt wurde, löste beim VBV Empörung aus.

BESCHWERDE Auf Anfrage der Jüdischen Allgemeinen erläutert Oberrabbiner Eliezer Wolff seine Beschwerde: »Als wir hörten, dass durch die Corona-Krise so viele Menschen gestorben waren, schickte ich dem Altenheim eine E-Mail und bot an, dass wir Beatmungsgeräte organisieren.«

Die Direktion habe dies aber abgelehnt, so Wolff. »Sie sagten, sie befolgten die niederländischen Vorschriften. Zwischen ihnen und unserem Standpunkt, bei dem Pikuach Nefesch, die Rettung des Lebens, im Zentrum steht, gibt es einen großen Unterschied. Für uns haben alte Menschen das gleiche Recht auf Beatmung!« Auch sein Angebot, nicht-infizierte Bewohner in ein Hotel zu evakuieren, habe die Direktion abgelehnt, so Wolff.

Das Thema bewegt den Rabbiner nicht erst seit der Corona-Krise. So habe er, als er vor 14 Jahren in die Niederlande kam und Mitglied des Beit Din wurde, gemeinsam mit Rabbiner Aryeh Ralbag und dem inzwischen nach Düsseldorf umgezogenen Rabbiner Raphael Evers ein Komitee gegründet, in dem fünf jüdische Ärzte sitzen. »Es geht darum, einen jüdischen Standpunkt in medizinischen Fragen zu formulieren, gerade auch in Bezug auf das Lebensende.«

VORWURF Wolff betont, seine Kritik am jüdischen Altenheim habe durch die Übersetzung aus dem Hebräischen, der Konferenzsprache des Rabbinertreffens, deutlich mehr Schärfe bekommen, als er beabsichtigt hatte. Hinzu kommt, dass er den Vorwurf, durch hohe Morphiumdosierung den Tod zu beschleunigen, so gar nicht erhoben habe, beteuert er. »Ich habe nicht gesagt, dass sie Menschen töten – nur, dass sie dem Protokoll des Staates folgen.«

Ruben Troostwijk, Vorsitzender der Ams­terdamer Gemeinde Nederlands Israëlitische Hoofdsynagoge (NIHS), kommentiert auf Anfrage der Jüdischen Allgemeinen, er habe die Worte von Rabbiner Wolff in den Medien gelesen, »aber sie nicht von ihm selbst gehört. Ich habe auch nicht nachfragen können, ob er korrekt wiedergegeben wurde«.

Es sei in den Niederlanden nicht erlaubt, jemanden schneller sterben zu lassen, sagt Troostwijk. Es gebe zwar eine Palliativversorgung, der es darum gehe, den Sterbenden das Leiden zu erleichtern. »Doch aus unserer Sicht ist die Situation im Altenheim, die sehr traurig ist, nicht schlechter Versorgung zuzuschreiben.« Es seien schlicht unglückliche Umstände, »genauso wie in einigen anderen Altenheimen in den Niederlanden, wo Corona so schwer zugeschlagen hat«.

Eine Mitarbeiterin des Heims wollte sich nur unter der Bedingung äußern, dass dessen Name ungenannt bleibt. »Wir haben den allergrößten Respekt vor dem Leben, gerade im Sinne des Judentums.« Jeder Bewohner habe aber auch ein Selbstbestimmungsrecht. »Wenn sie das wünschen, tun wir alles dafür, ihr Leben zu verlängern. Wenn Bewohner dem Rabbiner folgen wollen, dann tun sie das. Aber nicht alle wollen das.«

2002 waren die Niederlande das erste Land, das aktive Sterbehilfe zuließ.

Beatmungsgeräte gebe es in ihrem Heim nicht, genauso wie in anderen Einrichtungen in den Niederlanden. Doch habe man mehrere Patienten sehr wohl ins Krankenhaus transportiert.

GESETZGEBUNG Die Kritik der Rabbiner weist darauf hin, dass es einen grundlegenden Konflikt gibt: zwischen dem jüdischen Gebot, das Leben zu erhalten, und der Ethik-Gesetzgebung. 2002 waren die Niederlande das erste Land der Welt, das aktive Sterbehilfe zuließ. »Die Position der Tora ist nicht die des niederländischen Staates«, sagt Rabbiner Wolff. Er fordert, dass in einem jüdischen Altenheim Erstere maßgebend zu sein habe.

Unter den Tisch fällt in dieser Debatte freilich ein anderer Aspekt: Das betreffende Altenheim ist seit 2014 in den Händen eines großen Akteurs im niederländischen Pflegesektor, der es vor dem Konkurs rettete. Das Gesundheitssystem ist seit mehr als zehn Jahren stark marktwirtschaftlich ausgerichtet.

Um Kosten zu sparen, sind mehrere unrentable Krankenhäuser geschlossen worden. Wenn man eines Tages analysieren wird, wie das Gesundheitssystem in der Corona-Krise funktioniert hat, wird dies zu bewerten sein.

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