Israel

»Oft war es der reine Zufall«

»Nur rund ein Prozent der an der Schoa beteiligten Personen kam vor Gericht«: Nazijäger Efraim Zuroff (75) Foto: picture alliance/dpa

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»Oft war es der reine Zufall«

Fast 40 Jahre lang jagte Efraim Zuroff Nazis. Im Sommer hört der Direktor des Wiesenthal Center auf

von Ralf Balke  05.05.2024 23:04 Uhr

Herr Zuroff, Nazis jagen ist ein eher ungewöhnlicher Beruf. Wie kam es dazu?
Natürlich bin ich nicht als Nazijäger geboren worden. Ich glaube, zwei Punkte in meinem Leben waren in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Einerseits die Tatsache, dass ich bereits als Highschool-Schüler politisch aktiv war. Damals gingen viele junge Menschen auf die Straße, um gegen den Vietnamkrieg zu demonstrieren. Wir dagegen wollten erreichen, dass sowjetische Juden endlich nach Israel ausreisen konnten. Und dann ist da der familiäre Hintergrund. Bereits meine Eltern und Großeltern sahen es als ihre Berufung an, der jüdischen Gemeinschaft zu dienen.

Was war der nächste Schritt?
Ich habe an der Yeshiva University Geschichte studiert und mich intensiv mit dem Holocaust beschäftigt. Doch schon bald wollte ich lieber Aktivist als Akademiker sein.

Welche Rolle hat Simon Wiesenthal dabei in Ihrem Leben gespielt?
Simon Wiesenthal gab mir die Genehmigung, seinen Namen zu benutzen – schließlich gibt es zwischen mir und dem Simon Wiesenthal Center ansonsten keine direkten Verbindungen.

1978 wurden Sie der erste Direktor des Simon Wiesenthal Center in Los Angeles. Wie sah es zu dieser Zeit mit dem Bewusstsein für den Holocaust aus?
Selbst den meisten amerikanischen Juden dürfte der Begriff Holocaust damals weitestgehend unbekannt gewesen sein. Überhaupt herrschte bei vielen von ihnen das Gefühl vor, in den Jahren vor 1945 versagt zu haben, weil man es nicht geschafft hatte, Juden zu retten. Das ist auch die Erklärung dafür, warum so viele dann in den 60ern aktiv wurden, um den Juden in der Sowjetunion zu helfen.

Woher kam Ihr persönliches Interesse an Geschichte?
Da ist meine frühe Begegnung mit Jacob Birnbaum zu nennen, dessen Großvater Nathan übrigens den Begriff Zionismus »erfunden« hat und der uns junge Studenten auf das Schicksal der Juden in der UdSSR aufmerksam machte. Zudem stammt meine Familie aus Litauen. Der jüngste Bruder meines Großvaters, der nach 1945 im Auftrag der Hilfsorganisation Joint Holocaust-Überlebenden in Europa geholfen hat, ist während der deutschen Besatzung ermordet worden. Er hieß Efraim, und nach ihm wurde ich benannt. Das Thema war also präsent.

Anfang der 80er-Jahre waren Sie als Researcher für das Office of Special Investigations des US-Justizministeriums aktiv, um Verfahren gegen Nazi-Kriegsverbrecher zu unterstützen. Was genau waren Ihre Aufgaben?
Das Office of Special Investigations war eine 1979 gegründete Abteilung, um Personen zu identifizieren, die an Kriegsverbrechen beteiligt und nach 1945 in die Vereinigten Staaten eingewandert waren. Man wollte sie vor Gericht bringen, ihnen gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit wieder aberkennen und sie, wenn möglich, ausweisen.

Ging es dabei eher um ehemalige deutsche Staatsbürger oder auch um Personen aus den Ländern, die mit den Nazis kollaboriert hatten?
Die allermeisten dieser Personen stammten aus Ländern, die entweder von Nazi-Deutschland besetzt gewesen waren oder zu dessen Verbündeten zählten.

Wie muss man sich die Arbeit eines Nazi­jägers in einer Zeit vorstellen, als es noch kein Internet gab und Archive hinter dem Eisernen Vorhang nicht zugänglich waren?
Oft war es der reine Zufall, der einen auf Spuren führte. 1985 tauchte ein Schrei­ben auf, laut dem Josef Mengele 1946 von der US-Armee erst verhaftet und dann wieder freigelassen worden war. Das barg die Möglichkeit, das Ganze in den Vereinigten Staaten zu skandalisieren, weil Angehörige der amerikanischen Streitkräfte involviert waren. Es sollten unter anderem Ermittlungen aufgenommen werden, ob Mengele jemals in die USA eingereist war. Doch dafür musste man erst die Identität des Verfassers dieses Briefes ausfindig machen, was meine Aufgabe werden sollte. Und es ist mir überraschenderweise aufgrund der vielen Millionen Dateikarten, die in Yad Vashem lagen und die ich durchforstete, auch gelungen.

Wer war es?
Ein Mann namens David Freimann, der mit dem letzten Transport aus Lodz nach Auschwitz deportiert worden war und im Lagerkrankenhaus gearbeitet hatte. Aber mittlerweile wusste man, dass Mengele tot war, und ich hatte ohnehin das Gefühl, beim Office of Special Investigations meine Zeit zu verschwenden. Viel wichtiger aber war, dass ich damals über die Arolsen-Archivakten und andere Namenslisten, die ich in Yad Vashem hatte sichten können, auch auf die Namen von Nazi-Kollaborateuren in osteuropäischen Ländern gestoßen bin, von denen man annehmen konnte, dass sie nun im Westen lebten. Das war sozusagen der eigentliche Moment, in dem ich zum Nazijäger wurde.

Wie sind Sie dann weiter vorgegangen?
Ich kehrte zum Simon Wiesenthal Center zurück. Unsere Aufgabe sah ich darin, den westlichen Ländern Listen mit den Namen von Personen vorzulegen, die sich an Kriegsverbrechen beteiligt hatten, damit diese sie vor Gericht bringen würden. Doch damit so etwas überhaupt möglich war, mussten neue Gesetze erlassen werden. Dafür wollten wir werben. In Kanada, Australien und Großbritannien ist es uns gelungen, in Neuseeland leider nicht.

Das Interesse deutscher Behörden an der Verfolgung und Verurteilung von Kriegsverbrechern war nicht sonderlich stark ausgeprägt. Teilen Sie diese Einschätzung?
Deutschland nimmt gewiss eine Vorbildrolle ein, wenn es um die Aufarbeitung der Geschichte, Holocaust-Aufklärung oder Restitutionsfragen geht. Wenn wir aber von der Justiz und der Bereitschaft, Verantwortliche an den Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, sprechen, ist das Ergebnis leider absolut erschreckend. Nur rund ein Prozent der an der Schoa beteiligten Personen kam überhaupt vor Gericht.

Kam es irgendwann zu einem Mentalitätswechsel?
Ja, und zwar nach der Jahrtausendwende in den Prozessen gegen den KZ-Aufseher John Demjanjuk und den SS-Wachmann Bruno Dey. Über Jahrzehnte hatten die Strafverfolger nachweisen müssen, dass der Angeklagte ein bestimmtes Verbrechen gegen ein bestimmtes Opfer begangen hat. Nun reichte die Tatsache aus, als Wachmann in einem Lager gearbeitet zu haben, um wegen Beihilfe zum Mord verurteilt zu werden.

Gibt es Länder, die besonders wenig Interesse daran hatten, dass ehemalige Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt werden?
Ich würde gleich drei nennen, und zwar die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs tauchten Juden dort, wie überall in der Sowjetunion, gar nicht erst als Opfergruppe auf, sondern wurden pauschal als »Opfer des Faschismus« mitgezählt. Und nach 1991 dominierte das Narrativ, dass diese drei Länder sowohl Opfer von deutscher und sowjetischer Besatzung waren. Die Kollaboration baltischer Freiwilliger bei den Massenmorden an Juden, beispielsweise im litauischen Ponary, wurde ganz bewusst ausgeblendet.

Sie waren nunmehr fast 40 Jahre auf der Suche nach Kriegsverbrechern. Was waren Ihre größten Erfolge?
Der erste Name, der mir da einfällt, ist Dinko Šakic. Der Kroate war im Jahr 1944 Kommandant des berüchtigten KZ Jasenovac, auch als »Auschwitz des Balkans« bekannt. Er war ein brutaler Mörder und arroganter Hund sowie von beeindruckender Dummheit. Šakic lebte in Argentinien, wohin er nach dem Krieg dank der Hilfe von Krunoslav Draganović, einem Geistlichen der faschistischen Ustascha-Bewegung, geflohen war. In den 90er-Jahren hatte ihn ein TV-Team ausfindig gemacht, dem er nicht nur bereitwillig unter seinem richtigen Namen ein Interview gab, sondern auch voller Stolz von seinen Taten berichtete. Vor laufender Kamera sagte er: »Das Problem an Jasenovac war, dass man uns den Job nicht zu Ende machen lassen hat.« Damit konnten wir erreichen, dass Šakic nach Kroatien ausgeliefert wurde und man ihm den Prozess machte.

Im Jahr 2002 haben Sie die »Operation Last Chance« initiiert, eine internationale Kampagne mit dem Ziel, Kriegsverbrecher der Justiz zuzuführen, bevor diese sterben. Gab es Erfolge?
Auf jeden Fall! 2005 erhielt ich beispielsweise aus Schottland eine Mail von einer Person, die eine Fernsehdokumentation über die Deportation von ungarischen Juden gesehen hatte. Der Absender berichtete mir von einem dort lebenden Ungarn, der ihm gegenüber damit angegeben hatte, daran beteiligt gewesen zu sein. Daraufhin hatte ich einen befreundeten Journalisten gebeten, diesem Herrn unter fadenscheinigen Gründen einen Besuch abzustatten. Zu unserer Überraschung fand sich unter anderem in seinem Garten ein selbst gebautes Monument im Gedenken an die ungarische Nationalbewegung mit seinem Klarnamen und seinem Rang in der Gendarmerie, sodass wir wussten, um wen es sich handelte, und zwar um Istvan Bujdoso, der an Massendeportationen von Juden nach Auschwitz beteiligt war. Auf diesem Wege stießen wir dann auch noch auf einen weiteren Kriegsverbrecher, nämlich Sándor Képíró, der am Massaker von Novi Sad beteiligt gewesen war. Sein Bild hing in Bujdosos Haus an der Wand.

Auch wenn trotz aller Bemühungen zahlreiche Kriegsverbrecher nie vor Gericht kamen, kann man sagen, dass Sie mit Ihrer Arbeit diesen Personen wenigstens schlaflose Nächte bereitet haben?
Selbstverständlich ist es frustrierend zu wissen, dass man nur dazu beitragen konnte, dass einige Dutzend Kriegsverbrecher vor Gericht gekommen sind und noch weniger davon wirklich verurteilt wurden. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass manche von ihnen bis zu ihrem Tod mit der Ungewissheit leben mussten, nicht vielleicht plötzlich doch noch verhaftet zu werden. Dass unsere Arbeit dennoch sinnvoll war und ist, zeigt eine Begegnung, die ich in Kroatien während des Prozesses gegen Dinko Šakic hatte. Als Kommandant hatte er wegen angeblicher Disziplinverstöße eines Tages zahlreiche Gefangene exekutieren lassen, darunter einen jungen Mann aus Montenegro, den er persönlich erschossen hat. Dessen Bruder war bei dem Verfahren anwesend, und man kann sich kaum vorstellen, wie wichtig es für ihn war, nun zu sehen, dass Šakic endlich der Prozess gemacht wurde.

Im Sommer werden Sie sich von dem Posten als Direktor des Simon Wiesenthal Center zurückziehen. Kann man nach so vielen Jahren als Nazijäger überhaupt aufhören?
Auch wenn ich nicht mehr diesen Posten innehabe, werde ich weiter gegen antisemitische Lügen, vor allem im östlichen Europa, ankämpfen. Mit diesem Kampf kann man nicht einfach von heute auf morgen aufhören!

Mit dem Direktor des Simon Wiesenthal Center in Jerusalem sprach Ralf Balke. Zuroff wurde in New York geboren und lebt heute in Jerusalem.

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