Griechenland

»Niemand weiß, was kommt«

Zwei schlaksige Jungen sitzen krumm nach vorn gebeugt an einem langen Holztisch. Daneben ihre drei Schwestern. Der Größe nach aufgereiht wie eine Perlenkette schauen alle fünf auf ihre Smartphones. Vor ihnen wartet benutztes Geschirr darauf, abgeholt zu werden. Das Abendessen ist vorüber. Was bleibt, sind Teenager, die auf Bildschirme starren.

Während die Mutter versucht, den Überblick darüber zu behalten, welches ihrer Kinder gerade was liest oder gegen wen spielt, unterhält sich der Vater angeregt mit Nehama Hendel, einer der Geschäftsführerinnen des »Gostijo«, des einzigen koscheren Restaurants in Griechenlands Hauptstadt Athen. Der Belgier ist angetan vom Sprachtalent der gebürtigen Französin, die sich neben ihrer Muttersprache auch in makellosem Englisch und perfektem Griechisch verständigt. Zudem versucht sie, jeden Gast in seiner Sprache zu begrüßen. Sie ist wahrhaftig eine Gastgeberin.

Anfänge Die griechische Schuldenkrise begleitet das »Gostijo« seit seiner Eröffnung im Jahr 2011. Einerseits sei dies damals gut für den Start gewesen, sagt Hendel. Denn weil die Immobilienpreise im Keller waren, konnten sie und ihre Geschäftspartner einen ehemaligen Nachtklub mit viel Platz im hippen Stadtteil Psirri günstig kaufen. »Andererseits war das natürlich ein ziemlich schlechter Start. Der Tourismus brach ein, und die Einheimischen gingen nicht mehr aus«, so die 35-Jährige. »Vorher sind die Griechen oft ins Restaurant gegangen und gaben ihr Geld aus, ohne darüber nachzudenken.«

Obwohl am Nachbartisch noch eine junge Familie sitzt und sich im Biergarten ein paar Rucksacktouristen aufhalten, wirkt das großzügige Lokal fast leer. Der Montagabend sei immer ruhig, sagt Hendel und schiebt nach, dass das mit der Krise nichts zu tun habe. Freitags sei es dagegen immer voll. Da kämen nach dem Gottesdienst auch viele aus der Gemeinde.

Fünf Jahre, nachdem die EU, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds das erste milliardenschwere Rettungspaket für das hoch verschuldete Mittelmeerland schnürten, erlebt Hellas einen Sommer, in dem eine extreme politische Wendung sofort von der nächsten in den Schatten gestellt wird. Wieder sind die Kassen leer. Damit die Gläubiger sich überhaupt auf Verhandlungen einlassen, musste die Regierung des inzwischen zurückgetretenen linken Ministerpräsidenten Alexis Tsipras in Vorleistung gehen.

Am 20. Juli trat eine Reform der Mehrwertsteuer in Kraft, die weniger als fünf Tage zuvor beschlossen wurde – und es nur mithilfe der Opposition durchs Parlament schaffte. Für Hendel, wie für Zehntausende anderer Restaurantbetreiber im Land, hieß dies, dass die Mehrwertsteuer plötzlich nicht mehr 13 Prozent beträgt, sondern 23. Auf die Preise hat sie die Erhöhung bislang nicht aufgeschlagen. Zur Erklärung erzählt sie eine Anekdote: »Vor Kurzem wollte ein Gast aus Malaysia hier mit einem 500-Euro-Schein bezahlen. Das ist inzwischen mehr als das Monatsgehalt vieler Griechen.«

Doch das sei nur eines der Probleme. Viel dramatischer sind die Auswirkungen der Kapitalkontrollen für das »Gostijo«, an das auch das einzige koschere Lebensmittelgeschäft in Athen angeschlossen ist. Weil der Lieferant seinen Firmensitz im EU-Ausland hat, konnte Hendel ihn wochenlang nicht voll bezahlen. Überweisungen von höchstens 60 Euro in der Woche ins Ausland, wie noch Anfang August, reichen nicht aus, um Lebensmittelrechnungen zu begleichen. Bislang laufen die Lieferungen nur weiter, weil Hendel einen guten Draht zu ihrem Lieferanten hat.

Aber auch unter den Griechen selbst habe sich etwas geändert, sagt die Gastwirtin. »Man kann plötzlich nirgendwo mehr auf Rechnung kaufen. Wenn man bestellt, muss man bar bezahlen. Also bestellen die Leute weniger. Dadurch schrumpft die Wirtschaft.«

Mit welchem Wort man das Gemüt der Griechen in diesem Sommer beschreiben würde? »Verunsicherung«, sagt Hendel, ohne zu überlegen. »Du weißt nicht, wie es mit dir weitergeht. Niemand weiß, was kommt. Man kann überhaupt nicht planen«, sagt sie, das verunsichere alle. Seit Januar hängen Menschen und Wirtschaft in der Schwebe.

Schäuble Wenn Jack Soussis, der sich selbst als »Griechenlands einzigen jüdischen Taxifahrer« bezeichnet, über die Krise redet, spricht er nicht von Sparprogrammen, sondern von einem Feldzug gegen Griechenland. Er sagt dann Sätze wie »Schäuble ist böse« oder »Mit den Milliarden wurden nur deutsche und französische Banken gerettet«. Die Reformen nennt er »Bestrafungen«.

Soussis’ Körper fängt an zu zittern, wenn er im Biergarten des »Gostijo« über die vergangenen Jahre spricht. Er ballt seine Fäuste, hebt die Stimme, schlägt die Arme über seinem Bauch zusammen und schaut schließlich mit herzerweichendem Hundeblick vom Tisch auf, wenn er einräumt: »Ja, die Griechen haben auch ihren Teil zu der Situation beigetragen.«

Soussis wirkt wie ein freundlicher Bär, gutmütig, etwas tapsig und fröhlich. Aber wenn man ihn mit Worten reizt, schlägt er mit bissigen Kommentaren zurück. Sein Land, das doch eine so stolze Geschichte habe, das Europa die Demokratie gebracht habe, werde nun undemokratisch von außen zum Wandel gezwungen. So sieht er das.

Wie Millionen andere Griechen auch hat Soussis im Januar das politische Establishment der Mitte abgewählt, auf Alexis Tsipras gehofft und seine Stimme dessen linker Syriza gegeben. Beim Referendum im Juli stimmte er zum Entsetzen seines Bruders mit Oxi, mit Nein. Ob man wirklich dagegen sein kann, dass andere souveräne Staaten einem Geld leihen und dafür ihre Bedingungen stellen? Das sei ihm damals egal gewesen. »Das Nein war Ausdruck von Freiheit«, sagt er. Dass Tsipras anschließend doch weiterverhandelte, enttäusche ihn nicht. Es muss ja weitergehen.

Europa Meist spricht Soussis von Griechenland und von Europa. Das scheint er wirklich so zu meinen. Als wäre das eine nicht Teil des anderen. »Ich bin Jude, aber zuerst bin ich Grieche«, sagt er. Als Europäer sehe er sich nicht. »Das gibt es nicht. Man ist entweder Franzose oder Deutscher, Grieche oder Spanier.« Der 48-Jährige spricht aus, was er denkt. Sehr viele andere Griechen teilen diese Ansichten. Oft höre er seine Fahrgäste so reden, sagt er. Man mag es ihm glauben.

Ob im Überlandbus oder in einem Bergdorf im Westen des Landes, ob in der Seilbahn zum Gipfel von Athens Stadtberg Lykabettus oder in einem der schicken Cafés im Stadtteil Nikolaos: Wer erreichen möchte, dass einige Griechen kurz innehalten oder gar erschaudern, scheint nur bekennen zu müssen, dass er aus Berlin kommt. Mit der deutschen Hauptstadt verbindet kaum jemand in Griechenland etwas Positives.

Auf den Straßen des Landes wird deutlich, dass Europa nicht nur eine Schuldenkrise erlebt. Viel schwerer scheint eine Vertrauenskrise zu wiegen. Faule Griechen da, geldgeile Deutsche dort. Der Versuch, miteinander Small Talk zu führen, ist oft nichts anderes als ein ungelenker Tanz durch einen Porzellanladen, voller Elefanten, Zebras und wilden Tigern. Nach fünf Jahren Dauerkrise liegen bei vielen Griechen die Nerven blank. Dass ein drittes Hilfsprogramm die Situation verbessern wird, glauben die wenigsten. Wer weiß schon, wie groß das Loch wirklich ist.

Reformen Der Journalist Victor Eliezer sieht sein Land ebenfalls in einer schwierigen Lage. Einige der Reformen, die er im Gegensatz zu Jack Soussis auch so nennt, werden mit Sicherheit schmerzhaft, sagt er. Aber er glaubt, »sie werden effektiv und positiv für Griechenland sein«.

Die jüdische Gemeinde sei nicht weniger oder mehr betroffen als der Rest des Landes, sagt Eliezer. Man habe untereinander die Anstrengungen verstärkt, Leuten zu helfen, die Lebensmittel oder Medikamente benötigen. Dabei habe man auch auf Hilfe von außerhalb zurückgegriffen. »Die Solidarität internationaler jüdischer Organisationen mit uns griechischen Juden schätzen wir zutiefst«, sagt Eliezer, der früher Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Griechenland war.

Es sei sehr schwierig abzusehen, welches Ergebnis die vorgezogenen Wahlen am 20. September bringen werden. »Unsere politische Landkarte verändert sich gerade stark«, sagt Eliezer. Die Parteien der Mitte, die liberal-konservative Nea Dimokratia war schon bei den vergangenen Wahlen nur noch zweitstärkste Kraft. Die sozialdemokratische Pasok erlebte gleichzeitig eine wahre Wählerflucht.

Die Lücke haben die Neonazis der »Goldenen Morgenröte« gefüllt. Natürlich sei die jüdische Gemeinde darüber beunruhigt, sagt Eliezer, diese Entwicklung gehe jedoch Griechenland und ganz Europa etwas an. »Dass für diese Partei bei drei Wahlen während der letzten drei Jahre stets mehr als 400.000 Menschen gestimmt haben, nämlich 6,5 Prozent, ist ein Signal. Europa muss effektivere Maßnahmen gegen Neonazis ergreifen und die Werte der Demokratie stärken.«

Widerstandsfähig Bei einer Fahrt zum internationalen Flughafen, etwa 30 Kilometer von Athens Innenstadt entfernt, lässt Taxifahrer Jack Soussis seine Hände durch die Luft kreisen, als führe er einen Pinsel. Er zeigt auf Hügel, Buschland in sanftem Grün, und auf Täler, in denen jahrhundertealte Olivenbäume auf steinigem Grund wachsen. Die Landschaft sehe zwar rau aus, sagt er, aber: »Die Pflanzen, die hier wachsen, sind widerstandsfähig.«

Am Taxistand blickt Soussis auf die wenigen Reisenden, die aus dem Flughafen herauskommen, um sich chauffieren zu lassen. Die meisten nehmen mittlerweile die U-Bahn, die direkt vom Terminal nach Athen fährt. Soussis lehnt stolz an seinem Wagen. »Dass nun ausgerechnet ich einen Mercedes fahre, muss einem Journalisten aus Deutschland komisch vorkommen.« Er habe sich den Wagen aber nicht wegen dessen Herkunft gekauft, betont er. »Sondern weil die Klimaanlage so zuverlässig ist.« Die erhöhte Mehrwertsteuer, die auch das Taxifahren deutlich teurer macht, habe ihn bislang nicht gesorgt. »Doch wenn der Sommer vorbei ist und die Touristen wegbleiben, dann wird sich für mich viel ändern.«

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