Interview

»Niemand braucht diesen Krieg«

Protest vor der russischen Botschaft in Berlin am 24. Februar 2022 Foto: imago images/A. Friedrichs

Wie trifft Putins Krieg gegen die Ukraine die russische Wirtschaft? Um Antworten aus erster Hand zu erhalten, haben wir uns zu einem WhatsApp-Telefonat mit einem russischen Unternehmer verabredet, der sich zum Zeitpunkt des russischen Angriffs im Ausland aufhielt. Aufgrund der Risiken, die in Russland mit öffentlichen politischen Äußerungen einhergehen, möchte er anonym bleiben.

Sie sind Inhaber eines mittelgroßen russischen Unternehmens, das auch in der Ukraine aktiv ist. Wie haben Sie am Donnerstag auf Russlands Angriff reagiert?
Den ganzen Tag, in allen Gesprächen, hörte ich Unverständnis und Kränkung. Diesen Krieg braucht niemand. Meine Frau ist Ukrainerin, ich bin Jude. Es ist sehr traurig.

Welche wirtschaftlichen Auswirkungen hat der Krieg?
Die erste Frage, noch vor den wirtschaftlichen Auswirkungen, ist die nach den Beziehungen: Russland und die Ukraine sind zwei Länder, die aneinander angrenzen, deren Menschen zusammen leben, oft die gleiche Sprache oder zumindest ähnliche Sprachen sprechen. Und jetzt ziehen sie gegeneinander in den Krieg. Das sind Menschen, mit denen auch ich gute Beziehungen habe, auch Geschäftspartner und Freunde. Es ist unvorstellbar. 

Die wirtschaftlichen Effekte werden doch bestimmt auch spürbar sein.
Ja. Als die Rede auf den möglichen Krieg kam, dachte ich, das ist ein großes Problem. Denn Russland und die Ukraine sind meine beiden Hauptabsatzmärkte. Es gibt Gerüchte, dass es Russlands Ziel ist, die Ukraine in eine schwierige finanzielle Lage zu versetzen, damit sie nicht der NATO beitreten kann. Ich kann nachvollziehen, dass es aus russischer Sicht politische Gründe dafür gibt. Ich bin kein Politiker und kann mich nicht einmischen. Doch wenn die Ukraine in eine schlechte finanzielle Situation gerät, dann ist es schlecht. Wir erwarten einen Einbruch des Geschäfts um die Hälfte im Vergleich zum Vorkriegszeitraum.

Wie sehen Sie die Situation der Ukraine?
Die gute Nachricht besteht darin, dass die Ukrainer ein sehr positiv gestimmtes Volk sind. Wir sind seit 20 Jahren in der Ukraine präsent und haben in dieser Zeit schon drei Aufstände erlebt. Nach wenigen Wochen vergessen die Ukrainer alles und leben ihren Alltag, als wäre nichts gewesen. 

In welcher Lage steckt Russland?
Russland hat derzeit andere Probleme. Die Sanktionen kommen, die Börsenkurse stürzen ab. Das versetzt der russischen Wirtschaft einen starken Schlag. Deshalb erwarten wir einen Rückgang unseres Geschäfts mit Haushaltswaren um etwa 20 Prozent. 

Wie reagieren Ihre europäischen Geschäftspartner?
Das am meisten Unerwartete hat sich am Donnerstagmorgen ereignet. Wir hatten uns mit einem großen deutschen Handelsunternehmen mit einem Jahresumsatz von 500 Millionen Euro auf eine Zusammenarbeit geeinigt. Wir hatten die Kooperation schon begonnen, es lief gut. Sie waren zufrieden, sie brauchen unsere Produkte, wir waren auch zufrieden. Beim Treffen am Donnerstag sagten sie, dass der Unternehmensinhaber entschiedet hat, nicht mit uns zusammenzuarbeiten. 

Wie erklären Sie sich diese Entscheidung?
Ich führe als Jude ein Unternehmen in Russland, das auch in der Ukraine präsent ist, und mag auch Deutschland. Ich wollte einen guten Geschäftsabschluss machen, und wegen dieser geopolitischen Geschichten ist es geplatzt. Ich kann die Entscheidung des deutschen Unternehmensinhabers nachvollziehen. Er will einfach nicht mit potenziell toxischen Ländern, zu dem Russland jetzt werden kann, zu tun haben. 

Welche Risiken birgt der Krieg darüber hinaus?
Für ein mittelgroßes Unternehmen wie meines birgt die derzeitige Situation Probleme und kann uns ins Minus stürzen. Vor kurzem erst haben wir ein neues Werk in Russland eröffnet, in welches wir etwa fünf Millionen Euro investiert haben. Wir haben Mitarbeiter eingestellt. Die derzeitige Situation stellt diese Investitionen in Frage. 

Wird Ihr Unternehmen diese Krise bewältigen können?
Zweifellos werden wir es schaffen. Es ist die mittlerweile fünfte größere Krise, mit der wir als Unternehmen konfrontiert sind. In Russland stürzen mal die Börsenkurse ab, dann wird die Krim eingenommen und ein Krieg gegen die Ukraine begonnen, dann kommt die Pandemie. Jedes Mal ist es etwas Neues. Das Wichtigste, was die russischen Unternehmer haben, ist Anpassungsfähigkeit. Deswegen hoffe ich sehr, dass mein Team es schaffen wird, sich an diese Lage anzupassen.

Wie blicken Sie auf Russlands Beziehungen mit dem Westen?
In meinen Gesprächen mit meinen europäischen und amerikanischen Kollegen und Partnern über den Umgang Amerikas und Europas mit Putin haben wir festgestellt, dass der Umgang nicht ganz richtig ist. Denn der Westen spricht mit Putin von oben herab. Man hofft, ihn mit Druck brechen zu können. Doch die Russen leisten Widerstand. Wenn man Druck auf Russen ausübt, geben sie nicht nach, sondern sie antworten. Als man Putin mit Sanktionen für den Kriegsfall drohte, wusste ich, dass der Krieg kommen könnte. Denn wenn man einem Russen sagt, »Wenn du mich anrührst, schlage ich dich«, dann ist das sehr schlecht, denn er wird sogleich aggressiv. 

Gilt das auch für die russische Unternehmenswelt?
Wenn ich als Jude Geschäfte mit Russen machen, übe ich nie Druck aus. Ich werde lieber biegsam sein und Zugeständnisse machen. Wenn ich bei Verhandlungen mit russischen Partnern das Gefühl habe, dass sie eine harte Position einnehmen, suche ich eine Win-win-Situation. Ich versuche sie nicht zu brechen, denn sonst kommen sie zurück und tun dir weh.

Was prognostizieren Sie für Russlands Zukunft?
Putin hat Russland eisern im Griff. Man wird ihn nicht stürzen können. Die Sanktionen werden Russland in einen zweiten Iran verwandeln. Wir werden alle Geiseln dieser Geschichte sein. 

Mit dem russischen Unternehmer, der anonym bleiben möchte, sprach Eugen El.

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