»Belsen Camp, 16. Juli 1945« steht über dem Brief - drei Monate nach der Befreiung des NS-Konzentrationslagers Bergen-Belsen. Anita schreibt an ihre Schwester Marianne vor ihrem 20. Geburtstag: »Heute ist mein letzter Tag 19. Nun werde ich nie wieder eine 1 als erste Zahl haben (falls ich nicht 100 Jahre alt werde), und ich bin eigentlich sehr unglücklich darüber, denn ich bin nun eigentlich schon rechtschaffen alt.«
Die zweite »1« hat Anita Lasker-Wallfisch nun erreicht: Eine der bekanntesten Schoa-Überlebenden und Zeitzeuginnen wird am 17. Juli 100 Jahre alt. Über ihren Geburtstag sagte sie Mitte Juni der »Süddeutschen Zeitung« (online), das sei keine große Sache, eine Zahl, mehr nicht. 1945 weiß die damals 19-Jährige noch nicht lange, dass die insgesamt drei Schwestern den Nazi-Terror überlebt haben - ihre Eltern, die in Breslau (Wroclaw) als assimilierte Juden mit ihren Töchtern einen gutbürgerlichen Haushalt mit Musik und Fremdsprachen geführt hatten, haben es nicht geschafft.
Überall Leichen
Britische Truppen befreiten die Überlebenden aus der Hölle von Bergen-Belsen am 15. April 1945. Unter ihnen waren Anita Lasker und ihre Schwester Renate, Marianne harrte in Großbritannien aus. Die Zustände in dem Lager sind gut dokumentiert: Kraftlose Lebende kauern neben Leichen, überall Schmutz und Krankheiten, es fehlt an Wasser, Essen, Hygiene und fast allem, auch an Würde.
Wer es schafft, holt sich nach der Befreiung Schritt für Schritt die von den Nazis gestohlene Würde zurück. Anita Lasker, die später nach der Heirat ihren Doppelnamen erhält, gelangt im Camp in ein Team von Dolmetschern für die Briten. So wie Lasker können etliche Überlebende nicht sofort nach Hause. Viele sind entweder noch zu schwach, haben keine Heimat mehr, oder ein Staat weigert sich, sie aufzunehmen.
Zum Dolmetschen kommt die Musik: Im Camp bekommt Anita Lasker ein Cello geschenkt - für sie ein ungeheures Ereignis, wie aus Briefen in ihrem Erinnerungsbuch »Ihr sollt die Wahrheit erben. Die Cellistin von Auschwitz« hervorgeht. Schon vor der Schoa spielte sie Cello, was ihr im Lager das Überleben ermöglichte: Vor Bergen-Belsen waren Anita und Renate Lasker in Auschwitz inhaftiert, und dort spielte Anita im »Mädchenorchester«.
Musik als Schutz
Der Status als Musikerin gibt ihr in Auschwitz einen gewissen Schutz, und auf diesem Weg auch ihrer Schwester, die sie dort durch Zufall wiedertrifft - nach Zwangsarbeit in einer Papierfabrik und Aufenthalt im Gefängnis wegen gefälschter Dokumente. Dirigentin des Orchesters ist bis zu ihrem mysteriösen Tod Alma Rosé, Nichte von Gustav Mahler. Zu Rosé notiert die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem: »Dank ihrer Entschlossenheit konnte die österreichische Geigerin viele Musikerinnen vor dem Holocaust retten.«
Nach Mühen und Umwegen erreichen Anita und und Renate Lasker Großbritannien 1946, wo Verwandte leben. Schwester Marianne ist zu dem Zeitpunkt bereits nach Palästina ausgewandert. In London gründet Anita das English Chamber Orchestra mit und spielt dort lange als Cellistin. Sie heiratet Peter Wallfisch, bekommt ihre Kinder Raphael - ebenfalls ein Cellist - und Maya sowie Enkelkinder.
Zeitzeugin auch vor Schülern
Ihre Erinnerungen an die Lager hatte Lasker-Wallfisch erst nur für ihre Kinder und Enkel aufgeschrieben, woraus schließlich das Buch wurde. Ihre Tochter, Psychoanalytikerin, beschreibt in einem anderen Buch »Briefe nach Breslau« eindrucksvoll, wie Traumata von Überlebenden oft an Nachkommen weitergegeben werden.
Anita Lasker-Wallfisch reiste immer wieder durch Deutschland, um über ihre Erlebnisse zu sprechen, auch in Schulen, was ihr immer wichtig war. Sie ist darüber hinaus in dem Dokumentarfilm »Der Schatten des Kommandanten« in einer außergewöhnlichen Begegnung zu sehen: Zusammen mit ihrer Tochter trifft sie Hans-Jürgen Höss und dessen Sohn Kai - Sohn und Enkel von Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz.
Anita Lasker-Wallfisch erhielt Auszeichnungen wie den Deutschen Nationalpreis. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bezeichnete sie zu ihrem 95. Geburtstag als Zeitzeugin, die zum demokratischen Handeln motiviere.
»2.000 Jahre alter Virus«
2018 sprach Lasker-Wallfisch im Bundestag zum 73. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung: »Man kann es der heutigen Generation nicht verübeln, dass sie sich nicht mehr mit den Verbrechen identifizieren will. Aber ein Leugnen darf nicht sein.« Sie nannte Antisemitismus einen »2.000 Jahre alten Virus«, der »anscheinend unheilbar ist«.
Diese Diagnose gilt. Für 2024 meldete das Bundeskriminalamt bei den antisemitischen Straftaten in Deutschland einen neuen Höchststand: eine Steigerung um knapp 21 Prozent auf rund 6.200. Der »Süddeutschen Zeitung« sagte Lasker-Wallfisch zu ihrem 100. Geburtstag: »Der Antisemitismus ist heute stärker, als er es jemals war. Die Situation ist schrecklich.« Und: »Die Situation in Gaza ist schrecklich.«
Nach dem NS-Massenmord listete Renate Lasker 1945 in einem Brief die Kostbarkeiten auf, die Anita zum 20. Geburtstag im »Camp« bekommen sollte: »Unser Freund Capt. Powell und ich sind gestern extra in Hamburg gewesen, um Geschenke einzukaufen. Sie kriegt prima Blusen, Unterwäsche, Schuhe, 2 Kleider, eine dolle Geburtstagstorte aus 16 Eiern, Hühnchen, Kirschen und eine Eisbombe. Prima, was?«