Schweiz

Kein einfaches Amt

Glaubt an das Prinzip von Tikkun Olam: der neue SIG-Präsident Ralph Friedländer Foto: Alain Picard

Schweiz

Kein einfaches Amt

Seit 100 Tagen ist Ralph Friedländer Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes – in besonders schwierigen Zeiten für die Juden in der Alpenrepublik

von Hannah Einhaus  19.09.2024 19:26 Uhr Aktualisiert

Braun gebrannt kommt er zum Gespräch in ein Berner Café. Eine Bergtour mit Freunden habe er gerade hinter sich. Mehrere Tage. Achtstündige Touren seien nichts Besonderes. Das spricht für Ausdauer, einen sicheren Tritt, ein Ziel vor Augen und eine gute Orientierung, auch in unübersichtlichem Gelände.

Ralph Friedländer ist seit Anfang Juni der neue Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG). Zwei Tage nach seiner Pensionierung wurde er von der 119. Delegiertenversammlung einstimmig gewählt.

Bis Ende Mai war er als Diplomat und Unterhändler in zahlreiche Abkommen der Schweiz mit dem Ausland involviert und blickt auf eine 30-jährige Karriere in verschiedenen Institutionen der Schweizerischen Bundesverwaltung zurück.

Geboren 1959 in Mosambik, aufgewachsen in Genf und im Tessin

Geboren 1959 in Mosambik, aufgewachsen in Genf und im Tessin, schließlich Psychologiestudium in Zürich, spricht Friedländer alle drei Landessprachen fließend und Englisch, Spanisch, Portugiesisch und Hebräisch obendrein. 2014 bis 2020 war er Präsident der Jüdischen Gemeinde Bern, die vergangenen vier Jahre SIG-Vizepräsident.

Mit sicherem Tritt auf dem Boden bleiben und gleichzeitig das Ziel beziehungsweise eine Vision verfolgen, scheint auch Friedländers Art im Hinblick auf seine neue Funktion zu sein. »Ich habe großen Respekt vor dem Amt, es ist eine schwierige Zeit«, räumt er ein. Seine Vision und sein Antrieb sei ein »gleichberechtigtes, vielfältiges und sicheres jüdisches Leben in der Schweiz«

»Ich habe im November 2023 Israel bereist und die Schauplätze des Schreckens besucht.«

An Herausforderungen mangelt es Friedländer nicht. Den Dialog mit den Mitgliedergemeinden des Dachverbands SIG wolle er künftig stärken und »integrierend wirken«, sagt der 65-Jährige.

Bei der Erwähnung des 7. Oktober 2023 und der seither explosionsartigen Zunahme antisemitischer Vorfälle in der Schweiz verdunkelt sich Friedländers Blick. »Ich habe im November 2023 Israel bereist und die Schauplätze des Schreckens besucht«, sagt er. Diese Bilder und die Begegnungen mit Betroffenen haben sich bei ihm tief eingebrannt. Die Erleichterung sei groß gewesen, als die Regierung im Frühling dem Hamas-Verbot zustimmte.

Gleichzeitig betont Friedländer, dass der SIG als Vertretung des schweizerischen Judentums keine Stellung nehme zur israelischen Politik, sondern nur zu den antisemitischen Auswirkungen in der Schweiz. Dazu zählen auch Sicherheitsmaßnahmen infolge der massiv zugenommenen Bedrohung jüdischer Einrichtungen seit dem 7. Oktober. Die öffentlichen Beiträge wurden seither verdoppelt – nicht zuletzt dank der guten Vernetzung des SIG in der Politik.

Interreligiöser Dialog mit den muslimischen Gemeinschaften

Der jüdische Dachverband setzt den interreligiösen Dialog im Allgemeinen und mit den muslimischen Gemeinschaften fort, sogar – oder erst recht – nach dem islamistischen Attentat Anfang März auf einen orthodoxen Juden in Zürich.

Das könne, davon ist Friedländer überzeugt, einen wichtigen Beitrag gegen Extremismus und für das gegenseitige Verständnis leisten. Seit dem 7. Oktober sei der Dialog jedoch schwieriger geworden, »insbesondere für die muslimischen Vertreter«.

Doch wäre es nicht auch Zeit für eine härtere Gangart gegenüber islamistischen und anderen extremistischen Gruppen, die allesamt eine Gefahr für eine demokratische Staatsordnung darstellen? Die Frage sei berechtigt, so der neue Präsident.

Friedländer setzt dabei auch auf die »Nationale Antisemitismusstrategie«: Im Juni hatte das Parlament den Bundesrat beauftragt, eine Strategie und einen Aktionsplan gegen Antisemitismus und Rassismus auszuarbeiten – nicht zuletzt das Resultat langjähriger, beharrlicher politischer Arbeit des SIG.

Nach dem 7. Oktober hätten beide Kammern die Dringlichkeit erkannt, angesichts der Vervielfachung antisemitischer Vorfälle. Besonders physische Angriffe hätten massiv zugenommen.

»Der Krieg im Nahen Osten wird unter anderen Vorzeichen auch vor unserer Tür ausgetragen«, sagt Friedländer mit Blick auf Demonstrationen und Universitätsbesetzungen durch sogenannte »propalästinensische« Aktivisten. Und gekoppelt mit Anti-Israelismus werde häufiger und teilweise völlig ungehemmt auch Judenhass geäußert, »in unserer Gesellschaft, mitten unter uns«.

Kaum ausreichende Ressourcen

Er weist allerdings auch auf ein arbeitstechnisches Dilemma hin: Seit dem 7. Oktober hätte mit der gestiegenen Zahl der Antisemitismus-Fälle in der Schweiz auch das statistische Erfassen der Vorfälle, einschließlich solcher im Internet, Bedeutung bekommen. Der SIG habe kaum ausreichende Ressourcen, um diese zusätzlichen Aufgaben zu meistern.

Hinsichtlich der Präventionsmaßnahmen strebe der SIG deshalb eine Entlastung durch die öffentliche Hand an: Der Bund solle eine Beobachtungsstelle gegen Antisemitismus im Internet einrichten oder den SIG gegen Entgelt mit der Erfassung beauftragen.

»Das wird auch im Hinblick auf Künstliche Intelligenz und Bots immer wichtiger«, betont Friedländer. Für ihn stehe außer Frage, dass »das Netz die wichtigste Quelle für Falschinformation und Hetze ist, gerade bei jungen Leuten«.

»Der Krieg im Nahen Osten wird auch vor unserer Tür ausgetragen.«

Judenfeindschaft on- und offline, Finanzlöcher und Mitgliederschwund bei einigen jüdischen Gemeinden: Friedländer hat kein einfaches Amt übernommen.

»Es ist eine schwierige Zeit«, sagt er, aber er glaube an das Prinzip von Tikkun Olam, die Verbesserung der Welt. Es gebe auch viele Lichtblicke, wie das bessere Verständnis der Behörden für die Lage der Schweizer Jüdinnen und Juden, namentlich im Sicherheitsbereich, und die Fortschritte bei den entstehenden nationalen Gedenkstätten für NS-Opfer in Bern und St. Gallen – die ersten dieser Art in der Schweiz. Der SIG gehörte zu den Impulsgebern.

»Ich hoffe«, schließt Friedländer, »dass das Judentum und jüdisches Leben in der Schweiz bald wieder vermehrt mit positiven Assoziationen verbunden sein werden, mit Jüdinnen und Juden als gleichberechtigte und vielfältige Teile der Schweizer Gesellschaft, die einen positiven Beitrag leisten und unverzichtbar sind.«

Doch seine Miene und seine Stimme verraten: Auch er weiß, dass er hier momentan nicht auf eine Wanderkarte schaut, sondern eher auf einen Hochglanzprospekt für Traumreisen.

Großbritannien

Warten auf »Bridgerton«

Die Sehnsucht nach der vierten Staffel des Netflix-Hits ist groß. Aber wie war eigentlich das reale jüdische Leben in der Regency?

von Nicole Dreyfus  29.06.2025

Glastonbury Festival

Kritik an antiisraelischen Parolen

Neben der Musik sorgt Hetze gegen Israel für Aufsehen – mit Folgen für die BBC, die alles live übertragen hat

 29.06.2025

Glastonbury

Bob Vylan ruft »Death, death to the IDF« – BBC überträgt es

Beim größten Open Air Festival Großbritanniens rufen Musiker antiisraelische Parolen

 28.06.2025

Militär

Name des schwulen Bürgerrechtlers Harvey Milk von US-Kriegsschiff gestrichen

Das nach Milk benannte Versorgungsschiff heißt jetzt »USNS Oscar V. Peterson«

 28.06.2025

Meinung

Francesca Albaneses Horrorshow

Die UN-Berichterstatterin verharmlost den Hamas-Terror und setzt die Israelis mit den Nazis gleich. Mit ihren Ansichten tourt sie nun durch die Schweiz

von Nicole Dreyfus  30.06.2025 Aktualisiert

Aufarbeitung

Brasilien entschädigt Familie von jüdischem Diktaturopfer

Vladimir Herzog gehört zusammen mit dem ehemaligen Abgeordneten Rubens Paiva zu den bekanntesten Diktaturopfern

 27.06.2025

Buenos Aires

Anschlag auf Juden in Argentinien: Prozess nach mehr als 30 Jahren

Am 18. Juli 1994 waren beim Anschlag auf das jüdische Kulturzentrum AMIA 85 Menschen getötet und mehr als 300 verletzt worden

 27.06.2025

USA

Die Social-Media-Bändigerin

Die pro-israelische Influencerin Montana Tucker liefert Lehrstücke der modernen Kommunikation im Akkord. Zeit, sich die junge Frau, die mit Tanzvideos berühmt wurde, genauer anzusehen

von Sophie Albers Ben Chamo  26.06.2025

Balkan

Bosnien entschuldigt sich bei Rabbinerkonferenz

Über eine Tagung der Europäischen Rabbinerkonferenz in Sarajevo kam es zum judenfeindlichen Eklat. Mit der jetzt erfolgten Entschuldigung ist der Fall indes noch nicht bereinigt

 26.06.2025