Rumänien

Juden zu verkaufen

Wer gehen will, braucht Geduld. Stundenlang steht die Mutter jeden Tag am Küchenfenster und blickt hinaus aufs braune Eingangstor. Ihr einziger Trost ist, dass sie zumindest weiß, auf wen sie warten muss. »Wir haben es besser als die meisten anderen«, redet sie sich zu. Aber ob der Mann auch wirklich irgendwann an die Tür klopft, ist ungewiss. Darauf können Juden nur hoffen, in Bukarest im Jahr 1963.

Der Mann, auf den Betty Priefer, ihr Ehemann Mauriciu, Sohn Emil und Tochter Carola warten, ist ihr Nachbar. Er arbeitet beim Geheimdienst Securitate. Ende der 50er-Jahre hat die Familie einen Ausreiseantrag nach Israel gestellt. Wenn der Offizier im Hauseingang steht, dann wissen die Menschen, dass die Ausreise bevorsteht. Denn der Geheimdienst schickt seine Männer, um die frei werdenden Häuser zu begutachten. Noch bevor die offiziellen Dokumente per Brief bei den Ausreisewilligen ankommen, beginnt die Securitate, den Besitz der Gehenden zu verwerten. »Es hat fünf Jahre gedauert, bis der Nachbar zu uns kam«, erinnert sich Emil Priefer.

280.000 rumänische Juden haben das Land nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen, um nach Palästina und später in den neugegründeten Staat Israel auszuwandern. Das kommunistische Regime hat sie an Jerusalem verkauft: zu Beginn im Austausch gegen Bohrgerät, Industrieanlagen, Schweine oder Hühner, nach der Machtergreifung von Diktator Nicolae Ceausescu 1965 gegen Bargeld. Das wirtschaftlich darbende Land brauchte Devisen.

Ausreise Emil Priefer lebt seit 1964 in Haifa, ganz verlassen hat er Rumänien jedoch nie. Auf Facebook postet er Bilder der früheren Heimat: weichgezeichnete Stadtansichten, Pferde im Schnee, Trachtentänze. Unmittelbar nach der Revolution 1989 hat Priefer seine rumänische Staatsbürgerschaft zurückgefordert, die er bei der Ausreise ablegen musste. Inzwischen besitzt er neben dem israelischen auch wieder einen rumänischen Pass, und erst im November hat er im rumänischen Konsulat bei den Präsidentschaftswahlen seine Stimme abgegeben – wie etliche Male zuvor. Rumänien ist Priefers liebstes Reiseziel, er schaut in Israel rumänisches Fernsehen. Gerade ist seine Frau aus Bukarest zurückgekommen und hat ihm das dort typische Räucherfleisch Pastrama und rumänischen Käse mitgebracht.

Emil Priefer ist heute ein älterer Herr mit grauen Schläfen. 1963, als der Nachbar und Securitate-Offizier das Haus seiner Eltern begutachtete, war er 16. Ein Jahr später, im März 1964, wanderte die Familie aus.

Von den Machenschaften im Hintergrund haben die Priefers damals keine Ahnung. Weil sich das Regime mit der scheinbar humanitär begründeten Ausreise der Juden bei den Amerikanern einzuschmeicheln versucht, achtet der Geheimdienst beim Verkauf der Menschen auf Verschwiegenheit. Rumänien braucht Wirtschaftskontakte zum Westen. »Für mich war es ein Abenteuer«, erzählt Emil Priefer über die Auswanderung. Sein bester Freund auf dem Gymnasium habe zu ihm gesagt: »Sei froh, dass du in die Freiheit gehen kannst.«

Sozialismus Es ist der sowjetische große Bruder, der das junge rumänische Regime dazu bringt, die eigenen Minderheiten zu »versilbern«. Die Sowjets haben ab 1944 die damals bedeutenden rumänischen Gasproduktionsanlagen abgebaut und nach Osten transportiert, wodurch Rumäniens Gasproduktion eingebrochen ist. Die durch Krieg und Systemumstellung gelähmte Wirtschaft kommt nicht auf die Beine. Die Versorgungslage ist schlecht, doch hungernde Menschen lassen sich nur unwillig von den Vorteilen des Sozialismus überzeugen.

In Rumänien gibt es zu dieser Zeit die zweitgrößte jüdische Gemeinschaft Europas. Rund 375.000 Juden leben im Land – vor der Schoa waren es mehr als doppelt so viele. Schon kurz nach dem Krieg sind Juden ausgereist, unkontrolliert und je nach Stimmung der Obrigkeit. Bald jedoch erkennt das Regime das wirtschaftliche Potenzial der Gemeindemitglieder. Ende der 40er-Jahre, schreibt der Historiker Radu Ioanid, tauscht Bukarest einige Dutzend Juden gegen eine Schiffsladung Bohrgerät. Später folgen industrielles Equipment, landwirtschaftliche Maschinen und lebende Tiere.

mittelsmann So werden, als die Priefers 1964 das Land verlassen, dänische Landrasseschweine nach Rumänien importiert, die ein Mittelsmann mit israelischem Geld im Ausland gekauft hat. In Rumänien werden die Tiere gemästet und geschlachtet. Das Fleisch exportiert man in den Westen. Auf diese Weise kommen jährlich rund 50.000 Schweine ins Land und verlassen es gen Westen als Fleisch. Rund zehn Millionen Dollar spülen solche Ausfuhren Jahr für Jahr auf ein Sonderkonto des damaligen Machthabers Gheorghe Gheorghiu-Dej. Im Gegenzug darf eine vereinbarte Zahl an Juden ausreisen.

Gheorghiu-Dejs Nachfolger Nicolae Ceausescu lässt die Menschen ab 1965 gegen Bargeld gehen, das bei monatlichen Treffen der immer selben Mittelsmänner in den rumänischen Botschaften in Westdeutschland, Österreich und in der Schweiz die Seiten wechselt: Der israelische Gesandte kommt mit einem Koffer, der rumänische mit einer Liste.

Als die Zahl ausreisewilliger Juden zurückgeht und dem Diktator damit eine wesentliche Einnahmequelle auszugehen droht, bietet er Israel an, für den Transfer aus der Sowjetunion zu sorgen. Zu viele Auswanderer nehmen, am Knotenpunkt Wien angekommen, das Flugzeug in Richtung USA statt Israel. Von Bukarest aus fliegen Maschinen direkt nach Tel Aviv – die anderen Warschauer-Pakt-Staaten haben ihre offiziellen Beziehungen zu Israel nach dem Sechstagekrieg 1967 abgebrochen.

Kopfpreise Israel zeigt früh Interesse, den Handel mit Rumänien zu systematisieren. Der junge jüdische Staat möchte die Menschen gern aufnehmen, die Rumänien in die Freiheit ziehen lässt – auch wenn die Führung in Bukarest ab Mitte der 60er-Jahre Devisen verlangt. Man einigt sich über Kopfpreise: Für Akademiker werden 6000 Dollar mehr verlangt als für weniger Qualifizierte, Kinder dürfen gratis über die Grenze. Es ist ein leiser, aber unablässiger Austausch von Ausreisegenehmigungen und Dollarnoten, der erst mit der Revolution im Dezember 1989 enden wird. Bis zu diesem Zeitpunkt haben die Kommunisten die rumänische jüdische Gemeinde auf rund 20.000 Mitglieder heruntergebracht.

Einer von denen, die das Land verlassen, ist Eduard Mattes. Er wandert 1985 aus, zu einer Zeit, als Rumänien für einen Akademiker bereits 15.500 Dollar verlangt. Der frisch diplomierte Architekt will gar nicht nach Israel, solange Vater und Mutter noch in Rumänien leben – doch seine Frau drängt, ihre Eltern sind nämlich schon gegangen.

dokumente Der junge Architekt hört auf seine Frau und beginnt, die Behörden abzuklappern. Noch heute erinnert er sich, wie er jeden Tag in einer anderen Schlange stand, um die für den Antrag notwendigen Dokumente zusammenzutragen. Er muss Unterschriften sammeln, bei der Universität, dem Abwasseramt, dem Elektrizitätswerk, bei der Bibliothek – alle haben zu attestieren, dass der Ausreisewillige Eduard Mattes keinerlei Schulden beim rumänischen Staat hat. Alles hängt an diesen Stempeln.

Sein einstiges Zögern hat Mattes inzwischen längst vergessen. »Israel, das ist mein Zuhause«, sagt er, der wie viele rumänische Auswanderer in Haifa lebt. Der israelische Staat hatte sich bemüht, der kleinen Familie das neue Leben zu erleichtern, zahlte Überbrückungsgeld und Kinderbetreuung. Wenige Monate nach der Einwanderung sitzt Mattes wieder am Schreibtisch und zeichnet an Architekturplänen. Seit Bukarest und Jerusalem ein Visaabkommen unterzeichnet haben, lässt der kleine Mann mit dem weißen Bart auch seinen rumänischen Pass nicht mehr erneuern. Vom rumänischen Staat erwartet er nichts mehr.

Die rumänischen Kommunisten haben sich nicht nur an den Juden bedient, sondern auch die deutsche Minderheit feilgeboten. In diesem Fall der Bundesrepublik. 1997 hat sich Bukarest dafür entschuldigt. Für die rund 280.000 ausgewanderten Juden fand das offizielle Rumänien bislang keine Worte. Trübt dieser Hintergrund die Einstellung zur wiedergewonnenen alten Heimat? »Es wäre zumindest eine Geste«, sagt Emil Priefer leise. »Man hat doch auch die anderen Verbrechen des Kommunismus verurteilt.« Groll hegt er wegen der Sache mit der bezahlten Ausreise keinen. Er habe viel zu spät davon erfahren. »Da waren wir längst in Israel verwurzelt.«

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