Grossbritannien

»Ich bin gern Jude«

Der neue Verteidigungsminister Grant Shapps spricht offen über seine Herkunft

 07.09.2023 13:04 Uhr

Gilt vielen inmitten der Instabilität der britischen Politik seit dem Brexit als beständig: Verteidigungsminister Grant Shapps Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com

Der neue Verteidigungsminister Grant Shapps spricht offen über seine Herkunft

 07.09.2023 13:04 Uhr

In einer britischen Politiksendung behauptete vor Kurzem ein Gast, Grant Shapps, der erste jüdische Verteidigungsminister des Vereinigten Königreichs seit 30 Jahren, könnte mit Mister Benn, dem britischen kultigen Kinderfernsehhelden der 70er-Jahre, verglichen werden. Mr Benn war im Ausland nie so erfolgreich wie etwa Sherlock Holmes oder James Bond, und doch gelang es ihm, die Fantasie der britischen Kinder zu beflügeln

In jeder Episode der Sendung trug der sanftmütige englische Gentleman Melone, schwarzen Anzug und eine gestreifte Krawatte. Wenn er andere Kleider anzog, wurde er auf magische Weise in eine andere Welt versetzt, die genau zu dem passte, was er trug. Ganz gleich, ob er als Ritter, Höhlenmensch, Astronaut oder Tiefseetaucher verkleidet war, in jeder Folge gewann Mr Benn dadurch eine neue Identität, Rolle und Aufgabe.

Dass der 54-jährige Shapps der britischen Öffentlichkeit ein wenig wie Mr Benn vorkommt, scheint daran zu liegen, dass er im Laufe der letzten zwölf Monate eine unglaubliche Bandbreite an politischen Rollen und Aufgaben übernahm.

Seit Anfang September 2022 mit dem Rücktritt des damaligen Premierministers Boris Johnson seine Zeit als Verkehrsminister endete, wechselt Shapps ständig den politischen Hut. Dies ist etwas, das die Briten derzeit nur schwer verkraften können. Unter Premierministerin Liz Truss war Shapps im Oktober vergangenen Jahres sechs Tage lang Innenminister, danach Wirtschaftsminister und dann Staatssekretär für Energie.

Als ihm Premier Rishi Sunak vergangene Woche nun das Verteidigungsressort anvertraute, konnte es sich die Zeitung »The New European« nicht verkneifen, ihn »Five Jobs Shapps« zu nennen, nachdem er all die anderen Posten in nur zwölf Monaten bekleidet hatte.

JUDENTUM Verblüffend ist für viele Briten, was für eine große Rolle das Judentum im Leben von Grant Shapps spielt. Er betont, dass er in eine traditionelle jüdische Familie hineingeboren wurde. »Wir sind locker observant, (…) besuchen ein paar Mal im Jahr die Synagoge.«
Im Alter von 14 Jahren engagierte er sich in der jüdischen Jugendorganisation BBYO und übernahm später die Rolle des Vorsitzenden der Regionalgruppe in Pinner im Nordwesten Londons.

Später heiratete er seine Frau Belinda, eine jüdische Psychotherapeutin aus Prestwich in der Nähe von Manchester, mit der er heute drei Kinder hat. Er lernte Belinda 1995 in einem Pub in Leeds kennen, als sie in der Stadt studierte. Nach ein paar Wochen gingen sie miteinander aus, dann zog sie nach London, im August 1997 heiratete das Paar.

Doch nur zwei Jahre später wurde bei Shapps eine seltene Krebserkrankung diagnostiziert, das Hodgkin-Lymphom, das ihn zu einer Strahlen- und Chemotherapie zwang. Zuvor ließ er sein Sperma einfrieren, und so kam 2001 sein Sohn Hadley zur Welt, und 2004 wurden die Zwillingsgeschwister Noa und Tabytha durch In-vitro-Fertilisation (IVF) gezeugt.

In einem Interview mit dem »Jewish Chronicle« 2010 wollte Shapps zwar deutlich machen, wie wichtig ihm das Judentum ist, doch es war ihm auch wichtig zu betonen, dass er Agnostiker ist. »Ich fühle mich total jüdisch, ich bin total jüdisch. Ich esse kein Schweinefleisch, und wir kaufen nur koscheres Fleisch (…). Ich bin gern Jude.« (…) Es sei gut, seinen Kindern »etwas von diesem Lebensgefühl zu vermitteln«. Doch fügte er hinzu: »Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt oder nicht.« Er sei sich aber »absolut sicher: Gott ist es egal, ob man Jude, Christ oder Muslim ist«.

Kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Anfang 2022 nahm Shapps eine Familie aus dem kriegszerstörten Kiew auf: eine Großmutter, ihre Tochter, deren siebenjährigen Sohn und dessen Hund. Shapps erzählte, dass seine Vorfahren einst vor Pogromen aus Osteuropa geflohen seien.

CHAMÄLEON Ende 2022 scharten sich jüdische Gruppen um ihn und kritisierten den Brexit-Befürworter Nigel Farage, weil er Shapps als »Globalisten« bezeichnet hatte. Dieser Begriff, so die jüdischen Organisationen, sei antisemitisch und rechtsextrem konnotiert.
Die Verwirrung darüber, wer Grant Shapps eigentlich ist und wofür er steht, war aber wohl vor einigen Jahren am größten. Als konservatives Unterhaus-Mitglied bezog er 2005 offiziell ein Abgeordnetengehalt, agierte aber zugleich geheim unter dem Pseudonym »Michael Green« als »Digital-Vermarkter mit Millionenumsätzen«. Er stritt alles ab – bis die Zeitung »The Guardian« im Jahr 2015 unwiderlegbare, belastende Beweise veröffentlichte – Videoaufnahmen, die ihn zeigen, wie er damit prahlte, dass die Produkte, die er verkaufe, seinen Kunden »eine Menge Geld einbringen« würden.

Es ist sein fünftes Ministeramt innerhalb eines Jahres.

Obwohl Shapps häufig seine Meinung ändert und manchen daher als politisches Chamäleon gilt, ist er für viele ein Symbol der Stabilität im politischen Großbritannien, das seit dem Brexit-Referendum vor sieben Jahren fünf Premierminister und sieben Kanzler sowie ebenso viele Innen- und Außenminister hatte.

Inmitten dieser Instabilität gilt Shapps trotz allem als beständig. Er ist der Mann, der jeden Sonntag freundlich und höflich bei den politischen Sendungen auftaucht, obwohl er – ganz zu Recht – in die Mangel genommen wird.

Shapps ist zwar noch nicht ausreichend etabliert und hat nicht das politische Gewicht, um als Fels in der Brandung zu gelten. Doch er hat es geschafft, alles dafür zu tun, um im Spiel zu bleiben, während andere um ihn herum umgefallen sind. Obwohl er ständig auf seine eigene leicht mysteriöse Art auf und ab wippt, gilt er vielen im Moment als eine sichere Boje in den unglaublich unruhigen politischen Gewässern.

Schoa

Tausende beim »Marsch der Lebenden« in Auschwitz

An der Gedenkveranstaltung nahmen auch Menschen teil, die das Hamas-Massaker am 7. Oktober mit rund 1200 Toten in Israel erlebt hatten

 06.05.2024

Jom Haschoa

Auszeit vom Schmerz

Einmal im Monat treffen sich Holocaust-Überlebende im »Club 2600« in New York. Für ein paar Stunden sind sie dann nicht allein, denn mit dem Alter nehmen Einsamkeit und Depressionen zu

von Sebastian Moll  05.05.2024

Israel

»Oft war es der reine Zufall«

Fast 40 Jahre lang jagte Efraim Zuroff Nazis. Im Sommer hört der Direktor des Wiesenthal Center auf

von Ralf Balke  05.05.2024

Baku/Malmö

»Wachsendes Unbehagen«

Der Hamas-Terror und der Krieg in Gaza haben den jüdisch-muslimischen Dialog in Mitleidenschaft gezogen - dennoch gab es nun einen gemeinsamen Aufruf

 03.05.2024

Nachruf

Winter in Brooklyn

Im Oktober erschien sein letztes Buch: Der Ausnahmeschriftsteller Paul Auster wird nie wieder schreiben. Er wurde 77 Jahre alt

von Katrin Richter  02.05.2024

Antisemitismus

Islamistische Jugendliche sollen Angriffe auf Juden geplant haben

Eine Gruppe von 14- bis 17-Jährige sollen geplant haben, Juden mit Waffen anzugreifen

 01.05.2024

Antisemitismus

Der Krieg ist fern - der Konflikt ganz nah

Nach den Eskalationen der Uni-Proteste in den USA laden israelische Universitätspräsidenten Studenten und Professoren an ihre Hochschulen ein

von Dana Wüstemann  28.04.2024

USA

Wie ein böser Traum

Anti-Israel-Proteste sorgen an Elite-Universitäten für Gewalt und Chaos. Eine Studentin berichtet aus New York

von Franziska Sittig  26.04.2024

USA

Berufungsgericht hebt Urteil gegen Harvey Weinstein auf

Die Entscheidung ist ein Paukenschlag – vier Jahre nach der Verurteilung des ehemaligen Filmmoguls

 25.04.2024