Niederlande

Holocaust – was ist das?

Eine Umfrage offenbart, dass vor allem unter jungen Erwachsenen historische Fakten über die Schoa nicht bekannt sind

von Tobias Kühn  26.01.2023 07:43 Uhr

»Ich bin erschüttert und zutiefst besorgt über die Ergebnisse«: Schoa-Überlebender Max Arpels Lezer Foto: Melanie Einzig

Eine Umfrage offenbart, dass vor allem unter jungen Erwachsenen historische Fakten über die Schoa nicht bekannt sind

von Tobias Kühn  26.01.2023 07:43 Uhr

Im Auftrag der Jewish Claims Conference (JCC) hat das Markt- und Meinungsforschungsinstitut Schoen Cooperman Research im vergangenen Monat 2000 niederländische Erwachsene interviewt. Man wollte herausfinden, wie es in den Niederlanden um das Wissen und Bewusstsein zum Holocaust bestellt ist. Ähnliche Umfragen hatte die JCC in den vergangenen Jahren bereits in den Vereinigten Staaten, in Kanada, Österreich, Frankreich und England durchführen lassen. Am Mittwoch wurde das Ergebnis der repräsentativen Umfrage in den Niederlanden vorgestellt.

Demnach weiß mehr als die Hälfte der Befragten (54 Prozent) nicht, dass während der Schoa sechs Millionen Juden ermordet wurden. 29 Prozent glauben, es seien zwei Millionen oder weniger gewesen. Von den jüngeren Befragten (den Millennials und der sogenannten Generation Z, also den zwischen 1997 und 2012 Geborenen) glauben dies gar 37 Prozent.

GHETTOS Fast ein Drittel der Befragten (31 Prozent) war nicht in der Lage, auch nur ein einziges der mehr als 40.000 Lager oder Ghettos zu nennen, die während des Zweiten Weltkriegs errichtet wurden. Während ein hoher Prozentsatz der Befragten das berüchtigte Vernichtungslager Auschwitz nennen konnte (60 Prozent), sinkt dieser Anteil bei den Millennials und der Generation Z auf etwas mehr als die Hälfte (52 Prozent).

Zwölf Prozent aller Befragten halten den Holocaust für einen Mythos oder meinen, die Zahl der getöteten Juden werde stark übertrieben. Neun Prozent sind sich dabei nicht sicher. Bei den niederländischen Millennials und der Generation Z ist es sogar fast ein Viertel (23 Prozent) der Befragten, das den Holocaust für einen Mythos hält oder glaubt, die Zahl der ermordeten Juden sei stark übertrieben. Diese Zahlen sind höher als in jedem anderen bisher untersuchten Land.

Ein weiteres Ergebnis der Studie, das aufhorchen lässt: Zwölf Prozent aller niederländischen Befragten halten es für akzeptabel, wenn eine Person neonazistische Ansichten unterstützt. Bei den Jüngeren sind es gar 22 Prozent.

Zwölf Prozent aller Befragten halten den Holocaust für einen Mythos oder meinen, die Zahl der getöteten Juden werde stark übertrieben.

Der Umfrage zufolge unterstützt die Hälfte aller niederländischen Befragten die jüngsten Bemühungen von Personen des öffentlichen Lebens, das Versagen der Niederlande beim Schutz der Juden während des Holocaust anzuerkennen und sich dafür zu entschuldigen. Unter den niederländischen Millennials und der Generation Z unterstützen diese Bemühungen nur 44 Prozent.

ALARMSIGNAL Die Claims Conference nennt die Ergebnisse der Untersuchung alarmierend. »Mit jeder Studie wird der Rückgang an Wissen und Bewusstsein über den Holocaust sichtbarer; zugleich zeigt sich ein Trend zu Holocaustleugnung und -verzerrung«, sagte JCC-Präsident Gideon Taylor. Um dem zu begegnen, müsse die Holocaust-Erziehung verstärkt in den Fokus des Schulunterrichts gerückt werden. »Andernfalls wird Wissen durch Leugnung ersetzt, und künftige Generationen werden keinen Zugang mehr zu den wesentlichen Lehren des Holocaust haben.«

Dass die aktuellen Lehrpläne überarbeitet und ein nachhaltigeres Programm für Holocaust-Erziehung entwickelt werden muss, zeigt ein Detail der Studie: Während die meisten niederländischen Befragten (89 Prozent) mit Anne Frank vertraut sind, wissen 27 Prozent von ihnen nicht, dass sie in einem Konzentrationslager ums Leben gekommen ist. Bei den Millennials ist es fast ein Drittel (32 Prozent).

»Ich bin erschüttert und zutiefst besorgt über die jetzt vorgelegten Ergebnisse«, sagt der niederländische Schoa-Überleben­de Max Arpels Lezer. »Viele meiner Landsleute kennen nicht einmal ihre eigene nationale Geschichte. Ohne Bildung werden künftige Generationen das ganze Ausmaß der Auswirkungen des Holocaust in meinem Land nicht verstehen. Für uns Überlebende ist es von größter Bedeutung, dass die künftigen Generationen unser Zeugnis auch dann weitergeben, wenn wir nicht mehr da sind.«

sorge Auch hierzulande nimmt man das Ergebnis der Umfrage mit Sorge wahr. Rüdiger Mahlo, Repräsentant der Claims Conference in Deutschland, erklärte: »Die Niederlande-Studie führt uns vor Augen, dass historische Fakten vor allem unter jungen Erwachsenen keine verbindliche Größe mehr sind.«

Das Wissen über den Holocaust und das Bewusstsein für den Holocaust »erodieren in einer Rasanz, die uns aufrüttelt«, so Mahlo. »Unsere schlimmsten Befürchtungen erweisen sich als begründet. Wir müssen uns in einer großen gemeinsamen Anstrengung dem absichtsvollen Vergessen und dem Leugnen des Holocaust in den Weg stellen.«

Amsterdam

Spätherbst in Mokum

Einen Monat nach der Hetzjagd auf israelische Fußballfans diskutieren die Niederlande über Antisemitismus. In der jüdischen Gemeinschaft bleibt eine fundamentale Unsicherheit

von Tobias Müller  12.12.2024

Schweiz

Fünf Übergriffe auf Juden an einem Wochenende in Zürich

Die jüdische Gemeinschaft der Schweiz ist zunehmend verunsichert - der Antisemitismus hat ein Allzeithoch erreicht

 11.12.2024

Osteuropa

Der Zauber von Lublin

Isaac Bashevis Singer machte die polnische Stadt im Roman weltberühmt – jetzt entdeckt sie ihr jüdisches Erbe und bezieht es in die Vorbereitungen auf das Europäische Kulturhauptstadtjahr 2029 mit ein

von Dorothee Baer-Bogenschütz  10.12.2024

Sofia

Nach Nichtwahl ausgeschlossen

Bulgarien steckt in einer politischen Dauerkrise - und mittendrin steht ein jüdischer Politiker, den seine Partei jetzt ausschloss

von Michael Thaidigsmann  09.12.2024

Vatikan

Papst Franziskus betet an Krippe mit Palästinensertuch

Die Krippe wurde von der PLO organisiert

 09.12.2024

Österreich

Jüdisch? Arabisch? Beides!

Mit »Yalla« widmet sich das Jüdische Museum Hohenems einer komplexen Beziehungsgeschichte

von Nicole Dreyfus  07.12.2024

Australien

Anschlag auf Synagoge »völlig vorhersebare Entwicklung«

Die jüdische Gemeinde in Australien steht unter Schock. Auf die Synagoge in Melbourne wurde ein Anschlag verübt. Die Ermittlungen laufen

 06.12.2024

Streit um FPÖ-Immunität

Jüdische Studenten zeigen Parlamentspräsidenten an

Walter Rosenkranz habe Ansuchen der österreichischen Staatsanwaltschaft auf Aufhebung der Immunität von drei FPÖ-Parteifreunden verschleppt.

von Stefan Schocher  05.12.2024

USA

Trump will Jared Isaacman zum NASA-Chef ernennen

Der mögliche zweite Jude auf dem Chefsessel der Weltraumbehörde hat ehrgeizige Vorstellungen

von Imanuel Marcus  05.12.2024