Projekt

»Gigantische Aufgabe«

Rabbi Adin Steinsaltz sel. A. (1937–2020) Foto: JA

Am Sonntag hat der renommierte Talmudgelehrte und Lehrer, Rabbiner Adin Steinsaltz, seine hebräische Übersetzung des Babylonischen Talmuds offiziell abgeschlossen, eine monumentale Aufgabe, der sich Steinsaltz 45 Jahre lang gewidmet hatte.
Während er den Tag mit einem Hadran, einem Abschlussritual, in Jerusalem beging, feierten Hunderte jüdische Gemeinden überall auf der Welt den Global Day of Jewish Learning und trafen sich in Synagogen, Gemeindezentren und Schulen, um jüdische Texte zu studieren und die Gemeinschaft zu festigen.

Rabbi Steinsaltz’ beachtliche Leistung wird zwar von Wissenschaftlern und führenden jüdischen Repräsentanten gepriesen, doch der Gelehrte selbst ist umstritten und stößt in einigen orthodoxen Kreisen auf Kritik. Vor fünf Jahren sah er sich mit einem Mal außerhalb des orthodoxen Konsenses, nachdem er die Stelle des Nasi, des Präsidenten eines modernen Sanhedrins angenommen hatte. Der Sanhedrin ist die Neuerschaffung einer uralten jüdischen Gesetzgebungsinstanz, die die rituellen Vorschriften für das jüdische Volk festlegte. Von diesem Amt trat Steinsaltz 2008 zurück, weil ihm die Richtung, die diese Organisation eingeschlagen hatte, missfiel und er potenzielle Verstöße gegen die Halacha befürchtete. Andere kritisieren Steinsaltz’ Übersetzung als zumindest problematisch.

Widerspruch In den Worten von Rabbi Yosef Blau, geistiger Berater für Studenten an der Yeshiva University in New York, hätte eine so gigantische Aufgabe wie die Übersetzung des Talmuds ohnehin Widerspruch geweckt, egal wie Steinsaltz sie meisterte. »Wir reden über ein komplexes juristisches Werk, das über Hunderte von Jahren von vielen Generationen von Gelehrten erstellt wurde – jetzt will ein Einziger das alles übersetzen? Es kann niemanden überraschen, dass Fragen gestellt werden.«

Der 73-jährige Steinsaltz, Autor von fast 60 Büchern, hat auch ein Netz von Schulen in Israel und der ehemaligen Sowjetunion gegründet und auf der ganzen Welt gelehrt. 1988 erhielt er den Israelpreis, die höchste Auszeichnung des Landes, für sein Engagement für jüdische Erziehung und Bildung.

Sein Übersetzungsprojekt begann Steinsaltz 1965, getrieben von dem Wunsch, den Talmud Hebräisch sprechenden Juden zugänglicher zu machen, vor allem der säkularen israelischen Öffentlichkeit. Während die Lektüre der Tora jemandem, der modernes Hebräisch beherrscht, nicht schwer fällt, ist der Talmud in einem aramäisch-hebräischen Dialekt abgefasst. Sich darin zurechtzufinden, ist ausgesprochen schwierig und abschreckend für all diejenigen, denen diese Art der dialektischen Argumentation nicht vertraut ist. »Mit seiner Übersetzung ins Hebräische ermöglicht Rabbi Steinsaltz denen, die bislang durch die Sprachbarriere abgeschreckt wurden, sich dem Talmud im Studium zu nähern. Das ist eine enorme Leistung«, so Blau.

Für Steinsaltz ist der Talmud kein obskures Buch, das am besten in den Händen der Experten bleiben sollte, sondern das Textfundament für das Judentum selbst. Als Lehrer, der sein Leben damit verbrachte, Schülern auf der ganzen Welt jüdisches Wissen näherzubringen, vor allem auch durch die von ihm gegründete Aleph Society, habe er, so Steinsaltz, die Herausforderung, den Talmud so vielen Juden wie möglich zu öffnen, nicht einfach ignorieren können. »Der Talmud ist die tragende Säule des jüdischen Wissens, von zentraler Bedeutung für das Gesamtverständnis dessen, was es heißt, jüdisch zu sein«, sagt er. »Und doch ist der Talmud ein Buch, das die Juden nicht verstehen können – eine gefährliche Situation, so etwas wie eine kollektive Amnesie.« Er habe versucht, Zugänge zu erschließen, durch die Menschen in den Talmud eintreten können, ohne mit unüberwindlichen Barrieren konfrontiert zu werden, so Steinsaltz. »Das heißt nicht, dass die Lektüre nicht auch in Zukunft sehr schwierig sein wird, aber ich wollte wenigstens die Möglichkeit dazu schaffen.«

Konventionen Ein großer Teil des Talmudstudiums besteht darin, sich durch die begleitenden rabbinischen Kommentare zu arbeiten, die einerseits durch die Texte führen sollen, andererseits aber den Studierenden, der mit der Lektüre beginnt, in äußerste Verwirrung stürzen. Der Übersetzung des ursprünglichen Textes fügte Steinsaltz seine eigenen Kommentare auf Hebräisch bei. Die Kritik an Steinsaltz in bestimmten orthodoxen Kreisen rührt auch daher, dass er überlieferte Konventionen änderte und seine Kommentare jetzt den Platz einnehmen, der traditionell für Raschi, den überragenden Talmudkommentator, reserviert war. Steinsaltz fügte gewissen Tosafot neue Bemerkungen oder Kommentare an und änderte in seiner Übersetzung das tradierte Layout und die übliche Paginierung.

»Auch wenn es scheint, als ginge es hier nur um einen Streit um Formalien, empfinden viele sein Vorgehen als unangebracht«, sagt Rabbi Avi Shafran, Sprecher der ultraorthodoxen Organisation Agudath Israel of America. David Kraemer, Talmud-Professor am Jewish Theological Seminary, hingegen sieht darin kein Problem. Das Seitenformat des Talmud sei erst mit der Erfindung des Buchdrucks festgelegt worden, in den handschriftlichen frühen Manuskripten habe es ein solches überhaupt nicht gegeben.

»Jede Übersetzung ist eine Interpretation«, sagt Kraemer. »Um den Talmud sowohl wortgetreu als auch sinngemäß zu übersetzen, muss man kommentieren und das heißt: interpretieren. Ich kritisiere das in keiner Weise – alles Lesen und Kommentieren besteht daraus.«

Steinsaltz’ hebräischer Talmud ist nicht die einzige moderne Übersetzung. Kurz nachdem er sein Projekt in Gang gesetzt hatte, begann ein Team orthodoxer Gelehrter mit einer englischen Übersetzung. Veröffentlicht von ArtScroll, wird der englischsprachige Babylonische Talmud der Schottenstein-Edition heute von Studenten auf der ganzen Welt verwendet. Das ArtScroll-Team hat 63 von 73 Bänden seiner hebräischen Übersetzung bereits abgeschlossen; im Juni 2012 soll der vollständige Text vorliegen. Einige Traktate sind auch auf Französisch erhältlich.

»Manches deutet darauf hin, das dieses Projekt auch in Reaktion auf Steinsaltz ins Leben gerufen wurde«, meint Blau zu den Art-Scroll-Übersetzungen. »Ein Komitee wurde dafür von gewissen Teilen der orthodoxen Gemeinde beauftragt.«

»Ich möchte, dass die Menschen sich mehr mit jüdischem Lernen und Wissen beschäftigen. Wenn es Hunderttausende tun, wird die Erde beben«, sagt Steinsaltz. »Jüdisches Lernen heißt, sich selbst zu kennen. Es wird durch Juden geschaffen, und ebenso erschafft es die Juden. Wenn man lernt, lernt man etwas über sich selbst. Von daher entspricht das Studium einer Seite des Talmuds zwei oder drei Sitzungen bei einem Psychoanalytiker. Jüdisches Lernen ist ein Spiegel unserer Seele.«

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