Russland

Gefühl der Ungerechtigkeit

Vergangene Woche in der Nähe des Roten Platzes in Moskau: Sicherheitskräfte nehmen einen Sympathisanten des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny fest. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

In mehr als 100 russischen Städten sind an den vergangenen Wochen­enden Tausende Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die Verhaftung des prominenten Oppositions­politikers Alexej Nawalny zu protestieren.

Der 44-Jährige gilt als wichtigster Widersacher von Russlands Präsident Wladimir Putin und war im vergangenen Sommer in Sibirien mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet worden. Recherchen seiner Stiftung für Korruptionsbekämpfung zufolge war der russische Inlandsgeheimdienst FSB für die Vergiftung verantwortlich.

giftanschlag Während Nawalny nach dem Giftanschlag in Berlin medizinisch behandelt wurde, warf ihm die russische Justiz vor, gegen die Meldepflicht in einem früheren, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als »willkürlich« eingestuften Verfahren verstoßen zu haben. Aus diesem Grund wurde er nach seiner Rückkehr nach Russland zu zwei Jahren und acht Monaten Straflager verurteilt. Zudem drohen ihm weitere Verfahren.

In der Untersuchungshaft zündete Nawalny eine Bombe: Er veröffentliche kurz nach seiner Festnahme am Moskauer Scheremetjewo-Flughafen einen Film über die angebliche Luxusvilla Putins am Schwarzen Meer. Bis dato wurde das Video auf YouTube 110 Millionen Mal geklickt.

Was sie in dem Film sahen, macht viele Menschen wütend – und etliche gingen auf die Straße, um gegen das System Putin und die Korruption im Land zu demonstrieren. Bei den Protesten wurden zahlreiche Menschen verhaftet – unabhängigen Beobachtern zufolge sollen es mindestens 10.000 sein, man spricht von der größten Welle von Festnahmen bei politischen Demonstrationen seit dem Zerfall der Sowjetunion.

Nach den Festnahmen haben nur noch wenige den Mut, ihre Meinung öffentlich zu äußern.

Die größten Proteste fanden am 23. Januar mit bis zu 50.000 Menschen in der Hauptstadt Moskau statt. Deren Maßstab blieb jedoch im Rahmen der Erwartungen, während Sankt Petersburg, die Heimatstadt Putins, mit bis zu 30.000 Demonstranten die bemerkenswertesten Proteste seit Anfang der 90er-Jahre erlebte.

ungerechtigkeitsgefühl »Es kam einfach vieles zusammen«, erklärt der Jurist German Moyzhes, der sich in Sankt Petersburg in der jüdischen Gemeinde engagiert. »In Bezug auf Nawalny spielte vor allem das tiefe Ungerechtigkeitsgefühl eine Rolle. Aber auch die Unzufriedenheit mit der letztjährigen Verfassungsreform (die es Putin erlauben würde, über seine aktuelle Amtszeit hinaus bis 2024 Russlands Präsident zu bleiben, Anm. d. Red.) hatte ihre Wirkung.«

Moyzhes sieht sich zwar nicht in der Lage, die Meinung der Petersburger Juden über das Vorgehen des russischen Staates gegen Nawalny zusammenzufassen – »doch man kann sich vorstellen, dass wenige begeistert sind«, erklärt der gebürtige Petersburger, der zwischenzeitlich rund 20 Jahre in Köln lebte.

»Es wird heute wie zu Sowjetzeiten wieder viel in der Küche über Politik geredet«, sagt er. Was die Person Nawalny betrifft, ist Moyzhes, wie viele andere in Russland, durchaus geteilter Meinung: »Er tritt zum Teil undemokratisch und populistisch auf – aber er ist eben ein echter Politiker, der in der hiesigen Politik einen Platz verdient.«

HALTUNG Wie Juden zu den aktuellen Protesten stehen, unterscheide sich nicht davon, wie andere Menschen in Russland darüber denken, sagt der Wissenschaftler und Jiddisch-Übersetzer Walerij Dymschyz der Jüdischen Allgemeinen.

Er selbst hat in den vergangenen Wochen an Demonstrationen teilgenommen und betont: »Meine Meinung äußere ich ganz offen.« Doch gebe es keinen Zusammenhang zwischen seiner politischen Haltung und seiner jüdischen Identität. »Die Juden von Sankt Petersburg sind genauso wie die anderen Staatsbürger Russlands: Es gibt Menschen, die Indifferenz zeigen – und solche, die aktiv sind.«

So mutig wie Walerij Dymschyz sind dieser Tage nicht viele in Russland. Angesichts der Verhaftungswelle der vergangenen Wochen wollen etliche Gemeindemitglieder aus Angst lieber nicht mit Journalisten über Nawalny und die Proteste sprechen.

gegner Auf Dymschyz’ Facebook-Seite hingegen finden sich gleich mehrere politische Posts. »Ich will gar nicht sagen, dass Alexej Nawalny als Politiker talentiert ist – das ist selbst für seine Gegner offensichtlich«, schreibt er. »Aber es gibt sehr viele Menschen, die sagen: Wir sind gegen dieses Vorgehen des Staates, aber Nawalnys Ansichten sind fragwürdig.«

Dymschyz meint damit die umstrittenen Äußerungen des Oppositionellen aus den Nullerjahren, als dieser etwa zu den Teilnehmern des rechten Russischen Marsches gehörte. »Das verstehe ich nicht. Aber das Wichtigste ist doch, dass Nawalny perfekt dem politischen Momentum entspricht.

Seine Organisation heißt nicht umsonst Stiftung für Korruptionsbekämpfung.« Der russischen Staatsführung gehe es um »Geld und Eigentum«. Deswegen sei es »für uns alle wichtig, dies zum zentralen Punkt zu machen«.

Was die Person Alexej Nawalny betrifft, sind viele Juden geteilter Meinung.

»Bei der zweiten Demonstration wurde eine Rekordzahl von Menschen verhaftet, darunter auch Freunde von mir«, berichtet Dymschyz. Er versuche aber, trotz allem optimistisch zu bleiben: »Das Risiko wird jedes Mal größer, aber im Zentrum der Kolonne fühle ich mich sicher. Festgenommen werden meist die Menschen am Anfang und am Ende. Dies ist ein guter Grund, noch mehr an der Mobilisierung der Menschen zu arbeiten.«

oppositionelle Dies bleibt jedoch vorerst aus, denn Nawalnys Mitstreiter haben die nächsten Aktionen aufs Frühjahr verschoben. Man wolle die Proteste vorerst unterbrechen, hieß es aus dem Stab des Oppositionellen.

Beobachter bewerten die landesweiten Proteste durchaus als Erfolg, denn in der Vergangenheit hat es die Opposition oftmals nicht geschafft, die Menschen in den Regionen auf die Straße zu bringen. Dass man vorerst pausiert, liegt auch an den sehr tiefen Temperatuern. Man will vermeiden, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, die Proteste würden in ihrer Zahl zurückgehen.

Mit Blick auf die Proteste könnte es nun doch sein, dass diese noch vor dem Frühjahr wieder an Fahrt gewinnen. So hat die kleine Libertäre Partei Russlands (LPR) trotz der Anweisungen des Nawalny-Stabs bei der Moskauer Stadtverwaltung eine Demonstration am 23. Februar beantragt. Die Chancen auf eine Genehmigung sind gering – doch könnte die Kundgebung neuen Schwung in die Proteste bringen, denn der 23. Februar ist in Russland ein wichtiger gesetzlicher Feiertag: der sogenannte Tag des Verteidigers des Vaterlandes.

Regierungsrätin und Vorsteherin der Gesundheitsdirektion Natalie Rickli lehnte die unverbindliche Anfrage des Bundes ab, 20 Kinder aus Gaza in der Schweiz aufzunehmen.

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