Österreich

Gedenken in der U-Bahn

Linien, Balken, Endpunkte: Michaela Meliáns Wandbilder im U-Bahnhof Schottenring Foto: Simone Brunner

Wer hier steht, den fröstelt. Sei es durch den strengen Wind, der heute durch den Luftschacht bis in den U-Bahn-Tunnel zieht, oder durch das gleißend kalte Licht der Neonröhren, die den Passanten durch die Unterführung leuchten. Es riecht nach verschmortem Gummi von den U-Bahnzügen, die hier im Minutentakt in die Station rauschen.

Es ist kein besinnlicher Ort, die Unterführung des U-Bahnhofs Schottenring in Wien. Doch in der Unterführung zum Ausgang »Herminengasse« rankt sich ein Geflecht aus schwarzen Strichen und Balken. Hunderte feine Fäden, wie ein filigranes Streckennetz. 800 Linien, symbolisch für die 800 Juden, die zwischen 1938 und 1945 von hier aus deportiert wurden. Es ist die Tragödie des Holocaust, verdichtet in der Geschichte der Herminengasse, die die deutsche Künstlerin Michaela Melián gestaltet hat. Die Wandbilder wurden vor einigen Wochen der Öffentlichkeit übergeben.

Leopoldstadt Die Herminengasse liegt im Herzen der Leopoldstadt, dem seit dem 17. Jahrhundert am dichtesten jüdisch besiedelten Stadtteil Wiens. Von den Leopoldstädter Wohnungen und Sammellagern wurden unter den Nationalsozialisten Zehntausende Juden in den Tod geschickt.

Vom Verkehrsbetrieb der »Wiener Linien« und der Stadt Wien für das Kunstprojekt beauftragt, wunderte sich die Künstlerin Melián anfangs über die dünne Faktenlage. So musste zuerst ein Forschungsteam rund um die Historikerin Tina Walzer eingesetzt werden, um das Schicksal der Herminengasser Juden zu erforschen. Von den 21 Häusern, die die Gasse umfasste, waren zu Beginn der NS-Zeit elf in jüdischem Besitz. Neun davon wurden enteignet. In fast allen Häusern wurden Sammellager und Sammelwohnungen eingerichtet. 1322 Juden waren hier zwischen 1938 und 1945 gemeldet. 800 wurden deportiert, der Verbleib von 522 Menschen ist unklar. Eine Gasse, die pars pro toto für die Tragödie der Wiener Juden steht: vertrieben, ermordet, vergessen.

Eine zugige U-Bahn-Passage, durch die die Passanten zum Ausgang oder zum Bahnsteig eilen: Das ist freilich kein idealer Ort zum Verweilen. So nutzte Melián vielmehr den Platz, um die schiere Fülle der NS-Verbrechen zu zeigen. So sind es keine realistischen Darstellungen der Menschen und Häuser, sondern Linien, Balken und Endpunkte, die das Schicksal der Holocaust-Opfer wie in einem Koordinatensystem nachzeichnen. An deren Ende stehen immer die Vernichtungsorte, alphabetisch angeordnet, wie mit Filzstift hingekritzelt: Auschwitz. Izbica. Maly Trostinec. Treblinka.

So hat das Projekt eine mathematische, ja fast statistische Kühle, das das »Unbehagen an einem urbanen Nichtort« weiterschreibt, wie es die Kunsthistorikerin Eva Maria Stadler beschreibt. »Es war mir wichtig, mithilfe einer Zeichnung die gewaltsame hundertfache Vertreibung in abstrahierter Übersetzung so zu visualisieren, dass man auch im Vorübergehen einen Eindruck bekommen kann, den man dann, wenn man stehen bleibt, vertiefen kann«, sagt die Künstlerin Melián.

Grauen Oberirdisch erinnert heute kaum mehr etwas an das Grauen jener Tage. Nur 200 Meter sind es, heute wie damals, die die Herminengasse vom Anfang bis zum Ende misst. In den Gründerzeithäusern mit den prächtigen, pastellfarbenen Fassaden gibt es heute einen Schlüsseldienst, gemeinschaftliche Arztpraxen und einen Supermarkt.

An einer Hauswand erinnert ein Schild an 39 jüdische Frauen, Männer und Kinder, die hier von einer Sammelwohnung in den Tod geschickt wurden. Ein U-Bahn-Ausgang führt direkt zur Uferpromenade des Donaukanals, auf der viele Wiener an heißen Sommerabenden ihr Feierabendbier trinken.

Michaela Meliáns Installation schafft mitten in einem lebendigen und bunten Teil der Wiener Innenstadt einen Gedenkort – sichtbar, aber auch subtil. Das Projekt ist eine deutliche Absage an das »Davon haben wir nichts gewusst«, das in Österreich immer noch gepflegt wird.

Zürich

Die gute Seele der Gemeinde

Seit 13 Jahren sorgt der muslimische Hausmeister Michel Alassani dafür, dass im Gebäude der Israelitischen Cultusgemeinde alles rundläuft

von Nicole Dreyfus  14.08.2025

Meinung

Soll die Schweiz Palästina anerkennen?

Eine Anerkennung von Palästina wäre für die Schweiz ein aussenpolitischer Kurswechsel, von dem niemand profitiert

von Nicole Dreyfus  13.08.2025

Slowakei

»Wir würden es als großen Verlust empfinden«

Durch beherztes Handeln konnte die Stadtverwaltung von Prešov die Schließung des örtlichen Jüdischen Museums verhindern

von György Polgár  12.08.2025

Debatte

Missbrauch der Sarajevo-Haggada für Hetze gegen Israel

Ein Kommentar von Rabbiner Pinchas Goldschmidt

von Rabbiner Pinchas Goldschmidt  11.08.2025

Schweiz

Der Breslauer Schatz

Tausende Schriften stehen für das Überleben der jüdischen Kultur in Europa. Nun sollen sie endlich restauriert und zukünftigen Generationen zugänglich gemacht werden

von Leticia Witte, Ralf Balke  11.08.2025

Berlin

Holocaust-Überlebende zweifeln an Deutschland

Das Waffenembargo verunsichert auch Schoa-Überlebende in Israel - das meint der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees

 10.08.2025

Washington D.C.

USA klagen Mörder von israelischen Botschaftsmitarbeitern an

Elias Rodriguez könnte für den Doppelmord an dem Deutsch-Israeli Yaron Lischinsky und der Amerikanerin Sarah Milgrim zum Tode verurteilt werden

 07.08.2025

Großbritannien

Das zweitschlechteste Halbjahr

Nach dem Allzeithoch 2024 ist der Judenhass im Vereinigten Königreich zwar etwas zurückgegangen. Doch der Gaza-Krieg fungiert weiter als Katalysator für Antisemitismus

 06.08.2025

Iberia Airlines

»Free Palestine«-Kritzeleien auf koscheren Mahlzeiten

Jüdische Passagiere bekamen auf einem Flug von Buenos Aires nach Madrid Lebensmittel mit antiisraelischen Botschaften serviert

von Michael Thaidigsmann  05.08.2025