Interview

Fünf Minuten mit ...

Herr Lendvai, Umfragen zufolge sind Vorurteile gegenüber Juden in den vergangenen Jahren nirgendwo in Europa so stark angestiegen wie in Ungarn. Warum?
Es gibt in Ungarn keinen politischen Antisemitismus, aber eine gewisse Grundstimmung. Erschütternde Untersuchungen zeigen, wie wenig vor allem junge Menschen über Ungarns Vergangenheit wissen und dass die extreme Rechte vor allem unter den 20- bis 35-Jährigen besonders stark ist. Fehlende Vergangenheitsbewältigung ist ein guter Nährboden für Antisemitismus.

Welche Rolle spielen dabei die Medien?
Ich glaube, dass antisemitische Strömungen eine direkte Folge der rechten Medienhetze sind. Das rechte Lager kontrolliert die öffentlich-rechtlichen und viele private Medien. In den rechten Tageszeitungen konstruieren Publizisten wie Zsolt Bayer und Zoltán Bíró Verschwörungstheorien, wofür sie eine kodierte Sprache benutzen. Das lesen dann junge Menschen und denken, dass es Antisemitismus eigentlich gar nicht gebe, und wenn das Gegenteil behauptet werde, dann sei das falsch. Berühmte jüdische Intellektuelle wie der Pianist András Schiff, die Philosophin Ágnes Heller oder der Autor György Konrád werden als vaterlandslose und liberale Nestbeschmutzer attackiert, die mit ihren grundlosen Anschuldigungen die ungarische Nation diskreditieren wollen. Das ist doch lächerlich.

Inwieweit wirkt sich die aktuelle wirtschaftliche Krisensituation im Land auf das jüdische Leben aus?
Der Anteil derer, die behaupten, dass Juden im Geschäftsleben zu viel Macht ausüben, ist dramatisch angestiegen. Sogar Premierminister Viktor Orbán hat einmal gesagt, Ungarn führe einen Freiheitskampf gegen das globale Kapital. Das ist das alte Amalgam: Alles wird miteinander verbunden, die Wirtschaftskrise, die Banken, die jüdische Herkunft. Daher kommt auch die Überzeugung mancher, die Juden würden zwei Drittel des Weltkapitals beherrschen. Und die Bevölkerung lässt sich davon beeinflussen.

Müssen sich Juden in Ungarn heute wieder fürchten?
Das ist eine schwierige Frage. Es gibt eine schleichende, bei manchen eine akute Angst.

Begünstigt die Politik der rechtskonservativen Fidesz, die mit einer Zweidrittelmehrheit regiert, den Antisemitismus?
Viktor Orbán beteiligt sich nicht an antisemitischer Hetze. Aber er hat sie auch nie kritisiert oder sich davon distanziert. Wenn er irgendwo in Europa jüdische Organisationen trifft, schwärmt er von der sicheren Zukunft des Judentums in Ungarn, aber zu Hause ist er anderer Ansicht. Die Regierungspartei will keinesfalls Wähler an die rechtsradikale Oppositionspartei Jobbik verlieren, die aktuellen Umfragen zufolge auf 15 bis 20 Prozent der Stimmen kommt. Und laut der neuen Verfassung, die seit Anfang Januar gilt, war Ungarn zwischen der Machtergreifung der faschistischen Pfeilkreuzler 1944 und der Wende 1990 kein eigenständiger Staat – und somit auch nicht verantwortlich für die Deportationen. Damit spricht sich Ungarn faktisch von seiner Mitverantwortung für die Schoa frei. Schuld waren nur die Deutschen, aber das ist historisch falsch.

Gibt es eine Gegenbewegung?
Ich wünsche mir eine Zivilgesellschaft, die gegen Rassismus und Antisemitismus eintritt. In Ungarn gibt es viele engagierte Menschen. Doch ohne eine politische Organisation im Rücken können sie nichts ändern, da bin ich eher pessimistisch. Die Opposition ist sehr schwach. Ich befürchte, dass die rassistischen und antisemitischen Strömungen stark bleiben. Mit Friedrich Dürrenmatt, dem großen Schweizer Schriftsteller, bin ich der Meinung, dass wir nicht positiv sein dürfen, sondern ehrlich bleiben müssen.

Mit dem in Wien lebenden ungarischen Publizisten sprach Andreas Bock.

Tel Aviv

Noa Kirel und Daniel Peretz heiraten mit »kleiner Feier«

Die Sängerin und der HSV-Torwart standen in Jaffa unter großen Sicherheitsvorkehrungen unter der Chuppa

von Nicole Dreyfus  13.11.2025

Ausstellung

Avantgardistin der Avantgarde

Berthe Weill förderte nicht nur die moderne Kunst der Jahrhundertwende, als Galeristin war sie selbst eine Schlüsselfigur. Eine Ausstellung in Paris ehrt die Pionierin

von Sabine Schereck  13.11.2025

Kommentar

In Zohran Mamdanis New York werden Juden geduldet, nicht akzeptiert

»Liberale Zionisten« müssen in der Regierung des neuen Bürgermeisters keinen »Lackmustest« fürchten. Was beruhigend klingen soll, zeigt, wie stark der Antisemitismus geworden ist - nicht zuletzt dank Mamdani

von Gunda Trepp  11.11.2025 Aktualisiert

Zürich

Goldmünze von 1629 versteigert

Weltweit existieren nur vier Exemplare dieser »goldenen Giganten«. Ein Millionär versteckte den Schatz jahrzehntelang in seinem Garten.

von Christiane Oelrich  11.11.2025

USA

Mehrgewichtig, zionistisch und stolz

Alexa Lemieux ist Influencerin in den sozialen Medien und zum Vorbild für viele junge jüdische Frauen geworden

von Sarah Thalia Pines  11.11.2025

Prag

Der Golem-Effekt

Seit mehr als fünf Jahrhunderten beflügelt das zum Schutz der Juden geschaffene Wesen aus Staub und Worten die Fantasie. Ein Blick zurück mit Büchern, Filmen und den »Simpsons«

von Sophie Albers Ben Chamo  11.11.2025

Raubkunst

Zukunft der Bührle-Sammlung ungewiss

Die Stiftung Sammlung E. G. Bührle hat ihren Stiftungszweck angepasst und streicht die Stadt Zürich daraus

von Nicole Dreyfus  10.11.2025

Wien

Österreichs Regierung mit neuer Strategie gegen Antisemitismus

KI-gestützte Systeme zum Aufspüren von Hate Speech, eine Erklärung für Integrationskurse, vielleicht auch Errichtung eines Holocaust-Museums: Mit 49 Maßnahmen bis zum Jahr 2030 will Wien gegen Antisemitismus vorgehen

 10.11.2025

Jerusalem

Zerstrittene Zionisten

Der Zionistische Weltkongress tagt zum 39. Mal seit seiner Gründung im Jahr 1897 durch Theodor Herzl. Doch das Treffen droht zum Fiasko für die Organisation zu werden. Die Hintergründe

von Joshua Schultheis  10.11.2025