Ukraine

Fluchtpunkt Czernowitz

Der Bahhof von Czernowitz Foto: imago images / Volker Preußer

Ukraine

Fluchtpunkt Czernowitz

Der Krieg mobilisiert die Gemeinden im Land und macht sie stärker

von Vyacheslav Likhachev  27.08.2022 21:13 Uhr

Exodus – dieses Wort beschreibt, was zurzeit in der ukrainischen jüdischen Gemeinde passiert. Tatsächlich hat die Auswanderung ein Ausmaß angenommen, das an die Zeiten kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion vor 30 Jahren erinnert.

Doch es gibt beträchtliche Unterschiede: Anders als in der Generation ihrer Eltern wollten Tausende ukrainische Juden, die heute auswandern, das Land noch vor einem halben Jahr überhaupt nicht verlassen. Aber etliche von ihnen haben überhaupt keine andere Wahl, als sich woanders niederzulassen, denn sie können nicht mehr an ihren alten Wohnort zurückkehren. Andere hoffen, dass sie nur vorübergehend auswandern, um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen.

Inzwischen bekommt man in Czernowitz wieder mehrmals pro Woche einen Minjan zusammen.

In vielen Familien sind die Mutter und die Kinder ausgereist, der Vater dient im Militär. Diese Familien hoffen, dass sie sich bald wieder vereinen können und dies in einer siegreichen Ukraine geschieht. Doch der Krieg ist in vollem Gange, und ein Ende ist nicht in Sicht.

Von außen könnte man den Eindruck gewinnen, es würde mit der ukrainischen jüdischen Gemeinde demnächst zu Ende sein. Doch das täuscht. Natürlich wird sich die Demografie des ukrainischen Judentums verändern, doch eine echte Entvölkerung bedroht die Gemeinschaft keinesfalls.

STRUKTUREN Die Intensität der Arbeit in den gut organisierten Strukturen der ukrainischen jüdischen Gemeinde und ihr Umfang können durchaus mit gut entwickelten jüdischen Gemeinden in Westeuropa und den Vereinigten Staaten verglichen werden.

Die ukrainisch-jüdische Community hat kürzlich eine Onlineplattform etabliert, auf der darüber diskutiert wird, wie sich die russische Aggression auf die Juden im Land auswirkt. Das Format ermöglicht es den Leitern verschiedener Gemeinden und Organisationen aus allen Regionen des Landes, sich zu vernetzen und über ihre Erfahrungen eines halben Jahres intensivster sozialer und humanitärer Arbeit unter extremen Umständen auszutauschen.

Dabei hat sich herausgestellt, dass die Trends in der Arbeit bei allen ungefähr gleich waren. In den ersten Kriegsmonaten zielten die Bemühungen vor allem darauf ab, Massenrettungen aus Gebieten aktiver Kämpfe zu organisieren, Binnenvertriebene in Zwischenstationen im Zentrum des Landes aufzunehmen und Versorgungsketten zu organisieren, um den Menschen zu helfen, den westlichen Teil des Landes zu erreichen.

Als Folge dieser innerukrainischen Migrationsbewegung kam es übrigens nicht nur zu einer Entvölkerung der jüdischen Gemeinden im Osten des Landes, beispielsweise in Charkiw, sondern auch zu einer gewissen Wiederbelebung kleinerer Gemeinden in westukrainischen Städten, wie Lemberg, Iwano-Frankiwsk oder Czernowitz.

Der Rabbiner von Czernowitz sagt, er erinnere sich nicht, wann seine Gemeinde in den vergangenen 20 Jahren mehr als einmal pro Woche einen Minjan zusammenbekommen habe. Jetzt beherbergen die Czernowitzer Juden eine Gemeinde aus Charkiw, und das religiöse Leben sei viel aktiver geworden.

Im Frühjahr traf über die Kanäle internationaler jüdischer Organisationen humanitäre Hilfe aus dem Westen ein. Die Räume der Gemeinden haben sich in Lager für Lebensmittel, Medikamente, Hygieneartikel und Kindersachen verwandelt. Die Gemeinden stellten Listen von Bedürftigen zusammen, entluden und lieferten Hunderte von Tonnen Hilfslieferungen.

Jüdische Organisationen helfen inzwischen gezielter als am Anfang.
In den vergangenen Monaten hat sich die Frontlinie eher stabilisiert, und der Zustrom von Binnenvertriebenen beginnt sich abzuschwächen. In den befreiten Regionen im Norden des Landes normalisiert sich das Leben, und die Notversorgung der Bewohner abgelegener Städte ist nicht mehr relevant.

Gleichzeitig ist die Kommunikation mit den von der russischen Armee besetzten Gebieten im Osten und Süden vollständig eingestellt worden. Es ist inzwischen nicht mehr möglich, dort humanitäre Hilfe zu leisten. Die Menschen versuchen weiterhin, die besetzten Städte zu verlassen, aber jetzt müssen sie weitaus längere Wege zurücklegen.

Initiative Die ukrainisch-jüdische Gemeinde hat sich auf eine gezieltere Hilfe umgestellt. Ein Beispiel ist eine Initiative des Vaad, des Verbands jüdischer Gemeinden und Organisationen der Ukraine. Dabei geht es um ein Programm für Familien, die vom Krieg schwer getroffen wurden und psychologische Unterstützung benötigen. Es besteht aus zwei Komponenten: einem Projekt für vertriebene Familien, die durch den Krieg ihren Ernährer verloren haben, und einem Projekt für Frauen mit Kindern, die psychologische Unterstützung benötigen aufgrund von Belagerung, Besatzung, Bombenangriffen, des Todes eines Familienmitglieds, des Verlustes der Wohnung oder Situationen, in denen Frauen und Kinder Kriegsverbrechen miterlebt haben. Das Programm bietet einen zehntägigen Aufenthalt in den Karpaten, einer sicheren Region, wo Psychotherapeuten mit den Familien arbeiten.

Nach mehr als einem halben Jahr Krieg glauben viele Juden in der Ukraine: Krisenzeiten mobilisieren und festigen. Die Gemeinde in der Ukraine fühlt sich von der jüdischen Welt stark unterstützt und ist dankbar dafür. Ihre gesamte Arbeit wäre ohne die organisatorische, logistische, fachliche und vor allem finanzielle Unterstützung aus dem Ausland nicht möglich.

Der Autor ist Historiker und Journalist in Kiew. Er dokumentiert die aktuellen Kriegsverbrechen in der Ukraine.

Zürich

Goldmünze von 1629 versteigert

Weltweit existieren nur vier Exemplare dieser »goldenen Giganten«. Ein Millionär versteckte den Schatz jahrzehntelang in seinem Garten.

von Christiane Oelrich  10.11.2025

Raubkunst

Zukunft der Bührle-Sammlung ungewiss

Die Stiftung Sammlung E. G. Bührle hat ihren Stiftungszweck angepasst und streicht die Stadt Zürich daraus

von Nicole Dreyfus  10.11.2025

Wien

Österreichs Regierung mit neuer Strategie gegen Antisemitismus

KI-gestützte Systeme zum Aufspüren von Hate Speech, eine Erklärung für Integrationskurse, vielleicht auch Errichtung eines Holocaust-Museums: Mit 49 Maßnahmen bis zum Jahr 2030 will Wien gegen Antisemitismus vorgehen

 10.11.2025

Jerusalem

Zerstrittene Zionisten

Der Zionistische Weltkongress tagt zum 39. Mal seit seiner Gründung im Jahr 1897 durch Theodor Herzl. Doch das Treffen droht zum Fiasko für die Organisation zu werden. Die Hintergründe

von Joshua Schultheis  10.11.2025

Medienbericht

Katar soll mutmaßliches Missbrauchsopfer von Karim Khan ausspioniert haben

Das Emirat scheint sich in den Skandal um den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs eingemischt zu haben, wie Recherchen nun zeigen

 07.11.2025

Kommentar

In Zohran Mamdanis New York werden Juden geduldet, nicht akzeptiert

»Liberale Zionisten« müssen in der Regierung des neuen Bürgermeisters keinen »Lackmustest« fürchten. Was beruhigend klingen soll, zeigt, wie stark der Antisemitismus geworden ist - nicht zuletzt dank Mamdani

von Gunda Trepp  07.11.2025 Aktualisiert

Hurrikan Melissa

»Ich habe seit einer Woche nicht geschlafen«

Wie ein Rabbiner vom Wirbelsturm in Jamaika überrascht wurde – und nun selbst Betroffenen auf der Insel hilft

von Mascha Malburg  06.11.2025

Kommentar

Wo Israel antritt, rollt der Ball ins moralische Abseits

Israelische Spieler und Fußballfans werden schon lange dafür diskriminiert, dass sie von anderen gehasst werden.

von Louis Lewitan  06.11.2025

Kommentar

Warum Zürichs Entscheid gegen die Aufnahme von Kindern aus Gaza richtig ist

Der Beschluss ist nicht Ausdruck mangelnder Menschlichkeit, sondern das Ergebnis einer wohl überlegten Abwägung zwischen Sicherheit, Wirksamkeit und Verantwortung

von Nicole Dreyfus  06.11.2025